PsycheUnter welchen psychosozialen Folgen leiden Flüchtende aus der Ukraine?

Von den geflüchteten Frauen und Kindern wird eine enorme psychosoziale Anpassungsleistung verlangt: als Sturz in eine neue Wirklichkeit mit einer anderen Kultur und schwer zu durchschauenden bürokratischen Hürden. Dies kann mit Krisen, Angst, Desorientierung, Verlorenheitsgefühl und Zukunftsangst einhergehen und wird auch als „Flüchtlingssyndrom“ beschrieben.

Flucht: Frauen und Kinder auf der Flucht; als Schatten vor einer Mauer in Ukrainefarben
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Fast zwei Drittel der ukrainischen Kinder sind bereits vertrieben worden.

Aktuell erleben wir in Europa die größte Fluchtbewegung seit dem 2. Weltkrieg. Zwei Monate nach der russischen Invasion hatten bereits 5 Mio. Menschen die Ukraine verlassen [1].

Fast zwei Drittel der ukrainischen Kinder sind bereits vertrieben worden.

Eine erste Befragung des Bundesministeriums des Inneren ergab, dass 84 Prozent der Flüchtenden Frauen waren, 58 Prozent waren mit ihren Kindern geflohen, ein Drittel der Geflüchteten ist unter 18 [2]. Sie flüchten mit wenigen wichtigen Sachen, verlassen ihre Partner, Familien, die Heimat sowie die Umgebung und Routinen. Sie flüchten in benachbarte Länder, Hauptaufnahmeland ist Polen. Ein Großteil der Flüchtenden ist auch in Deutschland angekommen.

Unter welchen psychosozialen Folgen leiden die Geflüchteten? Prof. Kerstin Weidner vom Universitätsklinikum Dresden gab auf der Pressekonferenz des Kongress für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie dazu einen Überblick.

Psychische Gesundheit von geflüchteten Ukrainer*innen

Das Robert Koch-Institut hat Zahlen zur epidemiologischen Situation psychischer Gesundheit in der Ukraine und Empfehlungen zur Prävention und Versorgung psychischer Störungen zusammengefasst. Die Prävalenz psychischer Störungen in der Ukraine wurde vor dem Krieg generell mit 12,4 Prozent angegeben (zum Vergleich: In Deutschland liegt die Prävalenz 15 Prozent). Die häufigsten Störungen in der Ukraine waren Depressionen, Angststörungen und alkoholbezogene Störungen.

In der Ukraine zeigte sich eine sehr hohe Suizidrate mit 30,6 von 100.000 Menschen, global beträgt diese Rate 10,39 von 100.000 Menschen. Etwa 25 Prozent der Kinder und Jugendlichen in der Ukraine benötigten vor dem Krieg psychosoziale Unterstützung. Dabei zeigte sich jedoch eine Versorgungslücke mit Fachkräftemangel und Barrieren der Inanspruchnahme insbesondere durch mangelndes Vertrauen. Insgesamt sind die Zahlen schwer zu bewerten, nur 4 Prozent der ukrainischen Bevölkerung nahm 2018 überhaupt psychische Gesundheitsversorgung in Anspruch (in Deutschland sind es etwa 10 Prozent) [3].

Entsprechend der WHO wird das Risiko der Verschlechterung der mentalen Gesundheit in den nächsten drei Monaten als sehr hoch eingeschätzt mit höchster Risikobewertung unter allen Erkrankungen. Eine psychotherapeutische Gesundheitsversorgung der Geflüchteten wird dringend empfohlen [4].

Psychische Folgen der Flucht

Im Gegensatz zur Flüchtlingsbewegung 2015 kommen die Geflüchteten nicht aus einem folternden totalitären System mit multiplen und anhaltenden traumatisierenden Erfahrungen, die zur Flucht führten. Auch die Fluchtgeschichten unterscheiden sich.

Was die geflüchteten Frauen und Kinder im Einzelnen erlebt haben, welche psychosozialen Folgen sich zeigen werden, wie hoch der Anteil an Traumatisierungen ist – das ist noch nicht abzusehen. Ob sich Traumafolgestörungen einstellen, zeigt sich erst später: Nicht alle Geflüchteten entwickeln eine Traumafolgestörung und es darf zu keiner Pathologisierung kommen. Es gibt auch Unterschiede zwischen den Frauen und Kindern, die unmittelbar mit Kriegsbeginn geflüchtet sind und vielleicht auf ein vorhandenes Netzwerk außerhalb der Ukraine mit Aufnahmeoptionen in privaten Haushalten zurückgreifen konnten, und den Frauen und Kindern, die später geflüchtet sind, mehr Kriegsgeschehen, militärische Angriffe, Bedrohung der eigenen körperlichen und seelischen Integrität erlebt haben oder wochenlang in Massenaufnahmeeinrichtungen wie Messe- oder Turnhallen leben.

Frauen und Kinder, die am Fluchtziel ankommen, sind erschöpft, orientierungslos, die Widerstandskraft ist erst einmal verbraucht. Sie leben oft in räumlicher Enge mit neuen Sozialpersonen und mangelnder Privatsphäre. Frauen und Kinder sind plötzlich entwurzelt und oft allein. Sie fürchten um ihre Partner, die das Land nicht verlassen dürfen und zum Militär eingezogen wurden. Sie fürchten um ältere Familienangehörige, die vielleicht schwerwiegende somatische Erkrankungen haben, deswegen nicht flüchten konnten und aktuell keine adäquate medizinische Versorgung erhalten.

Von den Frauen und Kindern wird eine enorme psychosoziale Anpassungsleistung verlangt: als Sturz in eine neue Wirklichkeit mit einer anderen Kultur und schwer zu durchschauenden bürokratischen Hürden – trotz aller Erleichterungen für Flüchtende aus der Ukraine.

Diese Anpassung kann mit Krisen, Angst, Desorientierung, Verlorenheitsgefühl und Zukunftsangst einhergehen und wird auch als „Flüchtlingssyndrom“ beschrieben. Viele Geflüchtete wollen, sobald der Krieg vorbei ist, zurück in ihre Heimat. Damit ergibt sich ein herausfordernder Spagat zwischen Integration und Erhalt der Identität.

Früher bestehende psychische oder psychosomatische Störungen können fortbestehen, sich verdeutlichen oder sich mit anderer Symptomatik zeigen, neue Anpassungsstörungen oder andere psychische bzw. psychosomatische Störungen können auftreten, sowohl bei den Müttern als auch den Kindern. Prävention dieser Störungen ist aktuell besonders wichtig.

Erstbetreuung im Hinblick auf psychosoziale Hilfe

Der tatsächliche Bedarf an psychosozialer/psychotherapeutischer Hilfe für Geflüchtete ist bislang nur schwer abzuschätzen. Studien gehen von einem psychosozialen Versorgungsbedarf von 30 Prozent aus. Trotz der Erfahrungen aus der Flüchtlingskrise 2015 fehlt in Deutschland ein bundesweites Konzept zur Identifizierung und bedarfsgerechten Versorgung besonders schutzbedürftiger und besonders gefährdeter bzw. traumatisierter Geflüchteter.

Die Zugangswege und Versorgungslage sind in den einzelnen Bundesländern sehr verschieden. Bundesweit gibt es 47 psychosoziale Zentren, die jährlich ca. 25.000 Personen versorgen. Die Strukturen sind aber aufgrund der hohen Flüchtlingszahlen überlastet [5].

Besonders Sprach- und Kulturmittler*innen werden jetzt für therapeutische Angebote benötigt, aber es gibt zu wenig Übersetzer*innen und die Genehmigungsverfahren sind zu langwierig. Ersthelfer*innen müssen dabei unterstützt werden, Bedarfe zu erkennen und Stellen zur Weitervermittlung zu nennen.

An bereits etablierten psychosozialen Ersthilfeeinrichtungen sind die psychosozialen Zentren zu nennen, als deren Dachverband die Bundesweite Arbeitsgemeinschaft für Flüchtlinge und Folteropfer fungiert [6]. Weitere Erstanlaufstellen sind Traumaambulanzen, Ambulanzen in psychosomatischen und psychiatrischen Kliniken, von den Kassenärztlichen Vereinigungen betriebene internationale Praxen sowie niederschwellige Beratungs- und Gesprächsangebote in Erstaufnahmeeinrichtungen [7]. Auch in diesen genannten Einrichtungen kann aufgrund der begrenzten Kapazitäten keine für den erhöhten Bedarf ausreichende Versorgung gewährleistet werden [8].

Private Hilfen

Ein Teil der Geflüchteten konnte und kann auf familiäre oder freundschaftliche Verbindungen bauen und ist über private Netzwerke untergekommen. Die private Hilfsbereitschaft ist enorm. Insbesondere in den neuen Bundesländern haben viele Familien ukrainische Frauen und Kinder unmittelbar und niedrigschwellig in ihr eigenes Zuhause aufgenommen, Zimmer, Betten zur Verfügung gestellt. Private Transporte und Abholungen aus Polen, Rumänien, der Slowakei usw. wurden organisiert.

Ersthelfende und Aufnehmende können hier aber auch schnell an Grenzen kommen, da sich beim Leben in einem gemeinsamen Haushalt kulturelle Unterschiede bezüglich Kindererziehung, Ernährung, Verbindlichkeit, Umgang mit Strom, Wasser, Nahrungsmitteln etc. zeigen, die sich durch sprachliche Barrieren nicht schnell beheben lassen.

Wichtig ist, Unterstützung anzubieten, aber den Betroffenen selbst die Entscheidung zu überlassen, was sie davon annehmen möchten, Toleranz einerseits zu zeigen, aber auch einen Rahmen und Grenzen für sich selbst zu setzen.

Die Geflüchteten brauchen Zeit, damit sie ihre eigenen Ressourcen aktivieren und einen eigenen Routineablauf entwickeln können. Sie brauchen aktuell Sicherheit und proaktive Unterstützung, aber auch das Gefühl der Selbstwirksamkeit und Selbstständigkeit.

Kinder und weitere Risikogruppen

Kinder werden durch Krieg und Flucht oft von ihren Bezugspersonen getrennt oder aus ihrer vertrauten Umgebung gerissen, was sich besonders negativ auswirkt. Je jünger die Kinder, desto stärker sind diese negativen Auswirkungen. Unbegleitete Minderjährige haben ein besonders hohes Risiko, müssen besonders geschützt werden und benötigen eine besondere und frühzeitige psychosoziale und psychotherapeutische Betreuung.

Viele Geflüchtete wurden anfangs nicht registriert, was Missbrauch und Menschenhandel erleichtert. Vor allem in den ersten Tagen nach Kriegsbeginn hatten Männer versucht, die Notsituation der geflüchteten Frauen und Kinder auszunutzen, besonders gefährdet sind hier junge Frauen [9]. Wichtig ist, Frauen über ihre Rechte aufzuklären und sie über Hilfsangebote zu informieren. Helfer vor Ort müssen sensibilisiert und Aufklärungsmaterial bereitgehalten werden.

Literatur

[1] https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1294820/umfrage/kriegsfluechtlinge-aus-der-ukraine-in-deutschland/

[2] https://www.bmi.bund.de/SharedDocs/kurzmeldungen/DE/2022/04/umfrage-ukraine.html

[3] https://www.rki.de/DE/Content/GesundAZ/F/Flucht/Merkblatt-Psychische-Gesundheit.html (Abruf: 22.4.2022)

[4] https://apps.who.int/iris/bitstream/handle/10665/352494/WHO-EURO-2022-5169-44932-63918-eng.pdf?sequence=3&isAllowed=y

[5] https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/132448/Deutschland-ist-auf-die-psychosoziale-Versorgung-so-vieler-gefluechteter-Menschen-nicht-vorbereitet

[6] https://www.baff-zentren.org/hilfe-vor-ort/psychosoziale-zentren/

[7] Pabel L, Bilz L, Schellong J. Die therapeutische Krisensprechstunde für Geflüchtete in Dresdner Erstaufnahmeeinrichtungen. Trauma & Gewalt 2020; 14 (3): 237-243

[8] Baron J, Flory L. Versorgungsbericht. Zur psychosozialen Versorgung von Flüchtlingen und Folteropfern in Deutschland; 2020

[9] https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2022-04/gefluechtete-sexuelle-gewalt-frauen-kinder-ukraine?utm_referrer=https%3A%2F%2Fwww.google.com%2F

Quelle: Pressekonferenz/Pressemitteilung/DGPPM

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