PsycheKultursensibel kommunizieren in der Medizin

Sprachliche und kulturelle Unterschiede, verschiedene Sichtweisen auf Gesundheit und Krankheit und persönliche Erfahrungen mit den jeweiligen Gesundheitssystemen beeinflussen die Interaktion zwischen  Patient und Therapeut. Ansätze der transkulturellen Kommunikation können helfen, eine Brücke zwischen den Kulturen zu bauen.

Menschen, Köpfe, bunt, divers, Vielfalt, Multikulti, Kulturen
melita/stock.adobe.com

Kulturelle Unterschiede können in der Sprechstunde im günstigsten Fall zu Verständnisproblemen, aber auch zu Abwehr, aggressiver Grundhaltung und ausbleibenden Behandlungserfolgen führen.

von Solmaz Golsabahi-Broclawski

Inhalt

Kulturspezifischer Umgang mit Gesundheit und Krankheit

Sprache als Grenze unserer Wirklichkeit

Architektur der Sprache(n)

Kommunikation von Zielen und Erwartungen

Transkulturelle Kompetenz

Beispiele

Literatur

 

Transkulturelle Kompetenz bedeutet die Bereitschaft, eine Brücke zwischen den Kulturen zu bauen und sich auf die unterschiedlichen Sichtweisen und Bedürfnisse der Patienten einzulassen.

Jeder Klient, jeder Patient ist uns zunächst fremd. Wir kennen ihn oder sie vorab nicht. Manche sind uns besonders fremd, sei es aufgrund sprachlicher Barrieren, kultureller Gepflogenheiten oder ihres Verständnisses von Gesundheit, Krankheit und im Umgang damit. So wird ein Patient oft aus den verschiedensten Gründen als unterschiedlich anspruchsvoll, anstrengend oder herausfordernd wahrgenommen. Im Rahmen der Exploration stoßen wir häufig an Grenzen, weil wir entweder die Antworten der Patienten oder die Patienten unsere Fragen nicht zuordnen können.

Sehr häufig existieren bei Patienten aus anderen Kulturkreisen aufgrund der Erfahrungen mit dem Gesundheitssystem ihres Heimatlandes gewisse Barrieren bei der Beantwortung unserer Fragen, da sie eine Erwartungshaltung haben, der wir nicht gerecht werden können oder weil sie nicht der medizinischen Versorgung hierzulande entspricht.

So antwortet beispielsweise ein saudischer Patient mit depressiver Störung auf die Frage nach seinem Alkoholkonsum in der Sprechstunde zögerlich, da er Angst vor rechtlichen Konsequenzen hat. Er fürchtet, dass Alkoholkonsum für ihn zu einem Stigma oder behördlichen Konsequenzen führt. In seiner Heimat hat er Ärzte als Kooperationspartner der direktiven Behörden kennengelernt. Das Konzept der Schweigepflicht und die vertrauliche Behandlung medizinischer Daten nach unserem mitteleuropäischen Verständnis sind ihm völlig unbekannt. An dieser Stelle wäre es sinnvoll, die Rollenverhältnisse in der Sprechstunde in Deutschland klarzustellen, bevor man mit der Exploration beginnt, damit er sich nicht bedroht fühlt.

Ein anderes Beispiel aus dem täglichen klinischen Alltag illustriert die Irritation, die bei vielen Migranten entsteht, wenn man die Angehörigen nicht direkt in die Exploration einbezieht oder sie gar bittet, draußen zu warten, weil sie ja aus unserer Perspektive nicht Patient sind. Für Patienten, die aus kollektivistischen Kulturkreisen stammen, erkrankt im weitesten Sinne „ein Wir“ und nicht „ein Ich“ als Individuum. Werden die Angehörigen nicht mit einbezogen, kann das dazu führen, dass die Patienten sich zunächst vor den Kopf gestoßen fühlen oder in einen Loyalitätskonflikt gegenüber ihren Angehörigen geraten.

Kulturspezifischer Umgang mit Gesundheit und Krankheit

Nicht nur die kulturellen Herausforderungen können in der Sprechstunde zu Missverständnissen oder gar Unverständnis führen. Weltweit existieren neben den genderspezifischen auch unterschiedliche kulturspezifische Sicht- und Umgangsweisen mit Gesundheit und Krankheit. Sehr oft wird die Körpersprache nicht verstanden, beispielsweise die Bedeutung einer Geste oder wann ein Kopfschütteln ein Ja oder ein Nein bedeutet.

Die Liste der möglichen Missverständnisse ließe sich unendlich fortsetzen. Je größer die geografische Entfernung zu Deutschland, desto höher die Wahrscheinlichkeit, dass es auf beiden Seiten zu Fehlinterpretationen kommt.

Sprache als Grenze unserer Wirklichkeit

„Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt“, formulierte der österreichisch-britische Philosoph Ludwig Wittgenstein (1889–1951) [1]. Die Sprache als Grenze unserer Wirklichkeit führt uns in der Arzt-Patienten-Kommunikation häufig vor Augen, wie oft es zu einer Diskommunikation kommt, wie häufig wir einander missverstehen oder aneinander vorbeireden. Es ist wichtig, das eigene Handeln und eigene Schablonen aus der Vogelperspektive zu hinterfragen. Die Architektur der Muttersprache ist richtungsweisend für unser Denken und Tun.

Architektur der Sprache(n)

Wenn wir beispielhaft vom Deutschen als Muttersprache ausgehen, zeigt sich, dass es im Deutschen in der Regel nicht schwierig ist, sich klar zu artikulieren, Position zu beziehen oder auch sich abzugrenzen. Es ist ein Muss in der deutschen Sprache, eine klare Ich-Botschaft zu senden. An diese Architektur sind auch unser Kommunikationsstil, unsere Diagnostik und unser Therapieangebot angepasst.

In vielen Sprachen dieser Welt werden wir jedoch mit Wörtern wie Ja oder Nein nicht die gleiche Deutlichkeit, Schärfe und Präzision erreichen können wie im Deutschen. Schon in unserem Nachbarland Österreich ist eine Formulierung wie „Vielleicht, schauen wir mal“ häufiger ein klares Nein. In vielen asiatischen Sprachen gibt es zwar das abgeschwächte Ja, aber kein klares Nein.

In einem Explorationsgespräch führt dies häufig zu Missverständnissen, da wir hier durch unsere Sozialisation mit der deutschen Sprache eine klare und unmissverständliche Antwort auf eine klare, unmissverständliche Frage erwarten. Haben Sie Schmerzen? Wir erwarten: Ja, ich habe Schmerzen oder Nein, ich habe keine Schmerzen. Abgeschwächte Formen von Ja oder Nein sprengen den Rahmen unserer Sprechstunde.

In vielen eher kollektivistisch orientierten Kulturkreisen wird nicht das Individuum, das Ich, betont, sondern das Wir. In vielen Kulturen bedient man sich sprachlich lediglich eines konjugierten Verbs (ohne ein Personalpronomen zu verwenden), anstatt das Ich in den Vordergrund zu stellen.

Kommunikation von Zielen und Erwartungen

Wie sind nun Zielsetzungen, Erziehungsstile, Erwartungen kommunizierbar, wenn die Muttersprache ein Nein nicht kennt? Was passiert, wenn eine direkte, sogenannte unverblümte Formulierung im eigenen kulturellen Sprachgebrauch als Ausdruck von Unhöflichkeit und Ignoranz, vielleicht sogar geistige Minderentwicklung oder Team-Unfähigkeit verstanden wird? In welche Ecke fühlt sich ein Patient gedrängt, wenn er sich auf ein Ja oder Nein festlegen muss?

Semantisch sind die Erwartungen möglicherweise nicht weit auseinander. Kränkungen und Missverständnisse finden jedoch auf der Handlungsebene statt – obwohl wir meinen, dass doch alles klar und unmissverständlich formuliert wurde. Je müder, erschöpfter, gestresster wir sind, je voller die Sprechstunde ist, umso weniger Geduld haben wir, uns, wie z. B. im Urlaub, auf diesen kulturellen Dialog mit seinen Herausforderungen einzulassen. Angehörige, die mit in die Sprechstunde möchten, können vielleicht morgens, wenn wir frisch und gut gelaunt sind oder kurz nach dem Urlaub auf eine positive Reaktion hoffen. Sind wir aber gerade gestresst oder dürfen aufgrund der Pandemie keine Angehörigen in dieser Größenordnung in den kleinen Warteräumen dulden, kann das durchaus zu Abwehr und Unverständnis bis hin zu einer aggressiven Grundhaltung führen.

Häufig wird die Sprache eines Patienten auch als hysterisch, ausschweifend, wortkarg oder nicht aussagekräftig verstanden.

Dolmetscher als Sprachvermittler

Im Rahmen der medizinischen Untersuchung ist der Einsatz eines Dolmetschers als Sprachvermittler eine Lösung, aber nicht die Lösung. Es muss auch verstanden werden, wie man mit dem Medium Dolmetscher umgeht:

  • Wie standardisierbar ist die Arbeit mit einem Dolmetscher?
  • Wie beeinflussbar ist der Dolmetscher im Rahmen seiner Tätigkeit?

Schon Winston Churchill wies auf den Umstand hin, dass die Einigung zweier Politiker durch einen Dolmetscher um eine weitere Dimension komplizierter wird, denn ein Dolmetscher ist nolens volens eine Persönlichkeit, ein Mensch. Er bringt seine eigene Biografie, seine eigenen Erfahrungen mit Ärzten, Krankheiten und Gesundheitssystemen mit. Er kann im Rahmen einer Übersetzung durch unterschiedliche Wortbedeutungen und Hinweise Einfluss nehmen oder gar die Richtung des Verständnisses ändern.

Umso wichtiger ist der korrekte Umgang mit einem Dolmetscher, mit einem Vor- und einem Nachgespräch sowie klaren Formulierungen und Nachfragen. Wie kommt es, dass eine klar formulierte Frage, bestehend aus fünf oder sechs Wörtern, in einen Dialog von zehn Minuten zwischen Patient und Dolmetscher mündet und letztendlich mit einer ganz knappen Antwort in deutscher Sprache beschieden wird? Wie dürfen Ärzte/Ärztinnen, Untersuchende, Behandelnde mit einer solchen Information umgehen?

Transkulturelle Kompetenz

Im Rahmen der transkulturellen Kommunikation ist es wichtig, dass wir im Alltag Ausnahmen gewähren lassen. Damit ist keineswegs gemeint, dass wir als Professionelle unsere Arbeitshypothesen und Vorgehensweisen außer Acht lassen, sondern vielmehr, dass wir für kurze Zeit in eine fremde Welt und Sichtweise eintauchen, um herauszufinden, wo der blinde Fleck sein könnte. Vielleicht ist es sinnvoll, die Angehörigen nicht sofort aus dem Behandlungsraum zu bitten, sondern sich zunächst einen Blick über die Dynamik der Familienverhältnisse und die Rolle der Angehörigen bei der Erkrankung des Patienten zu verschaffen.

Das Konzept der inter- und transkulturellen Arbeit besteht darin, die eigenen Ziele fest im Fokus zu behalten, ebenso aber die Sichtweise der Klienten. Und gleichwohl beides in das eigene Handeln derart zu integrieren, sodass wir als Professionelle nicht den roten Faden verlieren. Transkulturelle Kompetenz bedeutet, im Alltag mit brisanten Situationen zurechtzukommen und einen Weg zu finden, eigene Wirklichkeitskonstrukte zu hinterfragen, ohne diese a priori für richtig oder falsch zu erklären.

Unterschiedliche Sichtweisen existieren genauso bei Menschen aus anderen Kulturkreisen, wie auch Deutschland vielfältig ist, von Ostfriesland bis Bayern, von Sachsen bis ins Saarland. Ein differenzierter Blick ist also auch hier sinnvoll.

Transkulturelles Arbeiten bedeutet, die eigenen Ziele ebenso wie die Sichtweise des Patienten im Fokus zu haben und beides in das eigene Handeln zu integrieren.

Unsere Klienten und Patienten, mit oder ohne Deutschkenntnisse, bilden eine besondere, äußerst heterogene Menschengruppe. Ein Patient kann aus Afghanistan stammen, homosexuell sein, sich vegan ernähren und nichtsdestotrotz konservativ eingestellt und für die Todesstrafe sein. All das ist kein Widerspruch. Deshalb sollten wir nicht a priori in Schubladen denken, sondern versuchen, unterschiedliche Möglichkeiten zuzulassen.

Weltbild und Bildungsstand, Geschlecht, Religionsverständnis, Lösungsansätze, Verständnis für Krankheit und Gesundheit spielen eine immense Rolle im Rahmen der Exploration und des Verständnisses für Diagnostik und Therapie. Aber auch ein ungeklärter Aufenthaltsstatus oder unausgesprochene sekundäre Krankheiten sind an dieser Stelle zu erwähnen.

Transkulturelle Kompetenz bedeutet nicht, dass wir sämtliche Kulturen, Sprachen und Gewohnheiten der unterschiedlichen Länder kennenlernen oder beherrschen müssen. Transkulturelle Kompetenz bedeutet vielmehr die Bereitschaft, eine Brücke zwischen den Kulturen zu bauen und sich auf die unterschiedlichen Sichtweisen und Bedürfnisse der Patienten einzulassen und gleichwohl nicht aus falscher Toleranz Entscheidungen zu treffen, die mit unseren ethischen Grundsätzen und Gesetzen nicht in Einklang zu bringen sind. An dieser Stelle sind u.a. der Umgang mit der Verstümmelung von Mädchen, der Palliativmedizin oder Vorgaben der Schweigepflicht zu benennen.

Beispiele

Die Verstümmelung von Mädchen ist ganz klar ein Verstoß gegen medizinische und ethische Grundsätze. Sie stellt in Deutschland und in Europa eine Straftat dar. In der ärztlichen Sprechstunde wird häufig indirekt über solche Themen gesprochen. Mögliche Hinweismomente können Harnwegsinfekte oder Beschwerden im Unterleib sein. Auf diese Weise wird langsam, sehr behutsam und schambesetzt auf ein Problem hingewiesen. Das medizinische Personal sollte dem Tempo der Betroffenen folgen, ohne das Ziel einer konkreten Diagnostik aus den Augen zu verlieren. Oft kennen die Betroffenen die chirurgischen Interventionsmöglichkeiten oder auch psychotherapeutische Hilfsangebote nicht.

Herausforderungen bei der Behandlung von Patienten aus anderen Kulturkreisen bilden beispielsweise auch Themen wie Scham, der Umgang mit Ängsten und Vermeidungsverhalten. Dies betrifft insbesondere die Palliativmedizin, aber auch die onkologischen, urologischen und gynäkologischen Fächer. Es ist ratsam, sowohl Scham, Ängste und Abwehrhaltung der Patienten als auch die eigenen wahrzunehmen und zu benennen. Die Sprechstunde sollte weder bedrängend noch belehrend gestaltet werden, sondern das Gespräch empathisch und vorurteilsfrei geführt werden.

Es hat sich als sinnvoll und gut praktikabel erwiesen, offene Fragen zu formulieren, die keine Anspruchshaltung mit sich bringen. Aus unserer Erfahrung sind z. B. folgende Formulierungen hilfreich:

  • Wie kann ich Sie in Ihrer Not begleiten?
  • Welche konkreten Vorstellungen haben Sie?

Natürlich können wir als Therapeuten nicht allen Wünschen und Vorstellungen nachkommen, aber solche offenen Formulierungen helfen uns – auch in Übersetzung in diverse andere Sprachen – eine Brücke des Verständnisses zu bauen und zu signalisieren, dass wir uns der Unterschiede bewusst sind und gerade deshalb nach Gemeinsamkeiten suchen.

Literatur

[1] Wittgenstein L. Logisch-philosophische Abhandlung. These 5.6. zit. n. Bierwisch M. Bedeuten die Grenzen meiner Sprache die Grenzen meiner Welt? https://core.ac.uk/download/pdf/14512465.pdf

[2] Golsabahi-Broclawski S, Biakowski A, Gillesen A, Broclawski A. Hrsg Interkulturelle Kommunikation in der Medizin. Berlin: Springer; 2020

Der Artikel ist erschienen in der zkm 1/2021.

Sie interessieren sich für ein Abo? Dann bitte hier entlang.

Dr. med. Solmaz Golsabahi-Broclawski ist Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie; Zusatzbezeichnungen: Ernährungsmedizin, suchtmedizinische Grundversorgung, Public-Health, Hygienebeauftragte, Sexualmedizin. Sie promovierte 2003 zum Thema transkulturelle Medizin. 2009–2015 war sie ärztliche Direktorin der Hellweg Kliniken in Bielefeld. Seit 2015 Niederlassung als Ärztin für Psychiatrie und Psychotherapie sowie ärztliche Leiterin am Medizinischen Institut für transkulturelle Kompetenz (MITK) in Bielefeld. Sie organisiert Fortbildungsveranstaltungen u.a. in den Bereichen Integration, Migration und Flüchtlinge, Sozialpsychiatrie.