WaldmedizinWald und Natur in Prävention und Therapie

Dass Wald und Natur Menschen guttun, bestätigen immer mehr Studien. Prof. Andreas Michalsen hat die Fakten aus der Forschung zusammengefasst.

Baum mit Biberfraß im Wald
K. Oborny/Thieme

Ätherische Öle, visuelle Effekte, Stille, aber auch Bewegung tragen zu den Wirkmechanismen beim Waldbaden bei.

Die Bedeutung von Grün in der Lebensumgebung zeigt sich besonders bei der Prävention psychischer Erkrankungen, aber auch als individuelle therapeutische Intervention für Menschen mit Stressbelastungen.

Bereits seit Beginn der Industrialisierung gab es medizinische Schulen und naturheilkundlich geprägte Ärzte, die auf die negativen gesundheitlichen Folgen einer zivilisatorisch veränderten Umwelt und der modernen Lebensbedingungen hinwiesen. Im Gegenzug forderten sie eine vermehrte Exposition in der Natur bzw. die Rückbesinnung auf die Natur als bewusstes Heilmittel [1]. Konkret wurden präventiv und therapeutisch strukturierte Anwendungen mit natürlichen Heilfaktoren und Heilweisen zur Erholung und als „Heilreiz“ vorgeschlagen. Diese natürlichen Heilweisen beinhalteten Klima, Licht und Luft, Wasser, Kälte, Wärme, Bewegung, gesundes Essen und Fasten. Dies war der Beginn der sog. Lebensreformbewegung, die bis heute in unserer Kultur und Gesellschaft sichtbar ist – in Form von Verbänden wie dem Kneippbund, von Reformhäusern, dem in Deutschland reichlich vorhandenen Kur- und Bäderwesen bis hin zu neuen Wellness-Trends.

Die natürlichen Heilweisen existieren aber schon länger und sind bereits in der griechischen „diaita“ explizit beschrieben. Dort und wiederholt in den Klassikern der Naturheilkunde wurden, auch aus ihrem Selbstverständnis heraus, dem Aufenthalt in der Natur, dem „in der Natur sein“ Heil- und Gesundheitswirkungen zugeschrieben. Die Natur ist nicht der Feind, die widrige Herausforderung im „fight for survival“, sondern, in einer eher romantischen Sichtweise, die Quelle für ein gesundes Leben.

Auch wenn dies fester Bestandteil der Praxis und Lehre naturheilkundlicher Pioniere wie Sebastian Kneipp, Vincenz Prießnitz, Arnold Rikli oder Maximilian Bircher-Benner war, wurde dies von der konventionellen Medizin als therapeutisch irrelevant betrachtet. Lediglich im Kontext der Physikalischen Therapie und Balneologie, worin z.B. Terraintraining, Brandungstherapie, Klimatherapie und generell natürliche ortsgebundene Heilfaktoren therapeutisch und präventiv eingesetzt wurden, spielte die Natur als medizinischer Kontextfaktor eine gewisse Rolle. Allerdings wurden hier in einer konventionellen Sichtweise die Elemente des „in der Natur seins“ auf einzelne, also fraktionierte Elemente wie Licht- und Temperaturreize, biochemische Faktoren oder Bewegungstherapie heruntergebrochen und weniger das Ganze zusammen als synergistische Therapie betrachtet.

Im Zuge der Urbanisierung der letzten Jahrzehnte und der wachsenden ökologischen Problematik findet sich in den letzten Jahren nun eine dynamische Entwicklung auf dem Gebiet der Natur- und Waldtherapie mit parallel wachsenden Forschungsaktivitäten.

Ausgangspunkte der Waldmedizin

Einen Ausgangspunkt bildete ein Waldmedizin-Konzept, das mit dem Begriff des Waldbadens bzw. „Shinrin yoku“ bereits 1982 vom japanischen Ministerium für Landwirtschaft, Wald und Fischerei geprägt wurde. Gerade in Japan ging die Urbanisierung mit Megastädten ohne nennenswerte Grünanlagen schon vor vielen Jahren „naturdefizitär“ vonstatten. Zudem sind in Japan frei zugängliche, öffentliche Waldflächen in Stadtnähe kaum vorhanden.

Neben Japan dominieren inzwischen Südkorea und China die Bewegung des Waldbadens. Auch hier vermutlich mitbegründet durch die radikale Urbanisierung der Städte, z.B. der südkoreanischen Hauptstadt Seoul mit über 20 Mio. Einwohnern und der meist stark umweltbelasteten chinesischen Megacities. In beiden Ländern wurden zuletzt umfangreiche, gesetzlich verankerte Programme zur Waldmedizin staatlich aufgelegt [2].

Ansätze zur medizinischen Wirkung von Wald und Natur

Bei der Beschreibung und Bewertung der Effekte von Natur und Wald sind zwei grundsätzliche medizinische Ansätze zu unterscheiden:

  • Naturnähe, Natur und Grün in Wohnortnähe als präventiver Settingfaktor
  • der gezielte, aktive Aufenthalt in der Natur und im Wald als individuelle präventive und therapeutische Intervention

Natur und Grünflächen als präventiver Settingfaktor

Erholung und Komplikationsraten im Krankenhaus

Berühmt wurde eine bereits 1984 publizierte Studie des skandinavischen Forschers Roger Ullrich [3]. Ullrich analysierte die Erholung bzw. Komplikationsraten und Wundheilungsverlauf von Patienten in einem Krankenhaus, dessen Zimmer entweder auf einen Park und Bäume gerichtet waren oder auf eine Betonwand. In den Ergebnissen zeigte sich eine deutlich bessere und schnellere Erholung der Patienten, die Blick auf die Natur hatten.

Was im Setting des Krankenhauses und der akuten Erkrankungssituation solche Effekte zeigte, wurde in der Folge auch auf Naturräume in Wohnortnähe als salutogener Faktor übertragen. Im Vordergrund stand dabei die psychische Gesundheit.

Psychische Erkrankungen

Schon lange ist bekannt, dass Großstadtbewohner ein 20–40 % höheres Risiko für psychische Erkrankungen aufweisen [2][5]. Für die Einschätzung der Bedeutung von Naturräumen für die seelische Gesundheit können beispielhaft einige Studien herangezogen werden.

Psychische Gesundheit von Stadtbewohnern in Philadelphia

Im Jahr 2018 veröffentlichten South und Mitarbeiter eine Studie mit dem Titel „Effects of greening vacant land on mental health of community-dwelling adults“ in JAMA Network open [4]. In dieser methodisch bemerkenswerten Studie stand die psychische Gesundheit von Stadtbewohnern in Philadelphia im Fokus. Eingeschlossen wurden 442 Probanden in 110 Nachbarschaftsblocks. Die Studienteilnehmer wurden randomisiert 3 Gruppen zugeordnet:

  • Gruppe 1 wurde aufgefordert (und durch das städtische Grünflächenamt unterstützt), alle Grünflächen zu säubern, Gras und Beete sowie einige Bäume anzupflanzen und dann monatlich die Flächen zu pflegen.
  • Gruppe 2 sollte die Flächen nur säubern und dies monatlich aufrechterhalten.
  • Gruppe 3 sollte keine Veränderungen vornehmen.

Das Ergebnis nach 18 Monaten war beeindruckend: Bei den Bewohnern der aktiv begrünten Nachbarschaft reduzierte sich die Anzahl der Bewohner, die angaben, sich sehr gestresst und nervös zu fühlen, von 34 auf 23 % und die Depressivität von 15 auf 10 %.

In den beiden anderen Gruppen gab es nur geringfügige Verbesserungen. Besonders ausgeprägt waren die Verbesserungen bei den Bewohnern der unteren Einkommensschichten (Jahreseinkommen unter 25.000 Dollar). Bei ihnen reduzierte sich der Anteil stark Gestresster von 40 auf 20 % und der Depressivität von 22 auf 9 %.

Beobachtungen aus epidemiologischen Studien

Diese Studie reihte sich ein in langjährige Beobachtungen aus epidemiologischen Studien, die sich mit einer Aussage knapp zusammenfassen lassen: Je weniger Grün sich in der Umgebung eines Menschen befindet desto größer ist die Morbidität, auch wenn für Einflussvariablen wie Bildung und Einkommen statistisch adjustiert wird.

Unter den assoziierten Erkrankungen dominieren Depression und Angstsyndrome, aber auch Diabetes mellitus Typ 2 und kardiovaskuläre Erkrankungen, ADHS, muskuloskelettale Schmerzen, Migräne sowie Lungenerkrankungen.

In einer weiteren, 2009 von Maas et al. publizierten Arbeit wurden die Gesundheitsdaten von 345.000 Menschen nach dem Faktor Nähe zu Grünflächen (< 1km, < 3km oder > 3km) differenziert. In den Ergebnissen zeigte sich bei über 11 breiten Erkrankungsgruppen eine um 20% reduzierte Mortalität, wenn sich Grünflächen innerhalb eines Kilometers der Wohnung befanden [6].

Besonders Menschen unter Stress, mit psychischer Vulnerabilität und wenig Nähe zu Grünflächen profitieren von urbanem Grün und Naturräumen.

Diabetes, Bluthochdruck, Herz-Kreislauf-Störungen

Eine Studie aus dem Jahre 2015 zeigte, dass in Wohngebieten der kanadischen Metropole Toronto dort, wo viele Bäume standen, die Gefahr, an Diabetes, Bluthochdruck oder Herz-Kreislauf-Störungen zu erkranken, deutlich niedriger war. 10 Bäume mehr um einen Wohnblock, so die Schlussfolgerung der Autoren, verjüngen den Gesundheitsstatus der Bewohner um bis zu 7 Jahre [7].

Psychische Gesundheit

Heidelberger und Mannheimer Psychiater um das Team von Heike Tost haben sich auf die Spurensuche des neurologischen Korrelats der günstigen Wirkungen von Grün auf die psychische Gesundheit begeben [8].

Im ersten Teil der Forschungsarbeit wurden 36 Teilnehmer über 1 Woche über digitale Tagebücher 10- bis 15-mal täglich zu ihrer Stimmung per Smartphone befragt. Weiter wurden per GPS-Ortung und Mapping ihr jeweiliger geografischer Standort und das dort vorhandene urbane Grün aufgezeichnet. So sollte erfasst werden, wie sich das Wohlbefinden verändert, wenn man sich abwechselnd in grünen oder nicht so grünen Stadtgegenden aufhält. In den Ergebnissen zeigte sich, dass der momentane Aufenthalt im Grünen mit besserer Stimmung verknüpft war.

Daraufhin wiederholten die Wissenschaftler bei einer zweiten Gruppe mit 54 Probanden die Messungen und konnten bestätigen, dass der Standort im Grünen mit einer deutlichen Stimmungsverbesserung einherging. Der Zugewinn an guter Stimmung im Grünen versus nicht im Grünen betrug 10mm Punkte auf der 100mm-VAS, was einem sehr deutlichen Effekt entspricht.

Nun wurde zusätzlich eine experimentelle Untersuchung bei diesen Teilnehmern durchgeführt. Während einer funktionellen Hirn-Kernspintomografie (FMRI) wurde eine Emotionsverarbeitungsaufgabe gemacht und die Hirnfunktion gemessen. Bei der Aufgabe bekamen die Menschen Reize präsentiert, die negative Emotionen in Form von Gesichtsausdrücken präsentierten.

In den Ergebnissen zeigte sich, dass die Versuchspersonen, deren seitlicher hinterer präfrontaler Kortex weniger Kapazitäten besitzt, um negative Emotionen zu kontrollieren, empfänglicher für den positiven Einfluss des Grüns waren. Die Versuchspersonen, die also leichter durch negative Gefühle stressbar waren, konnten diese kompensieren, wenn sie Parks, Bäume oder Blumen wahrnahmen.

Eine frühere Mannheimer Studie hatte bereits gezeigt, dass das Gehirn von Stadtbewohnern generell leichter stressbar ist und diese für psychiatrische Erkrankungen empfänglicher sind.

Fazit

Insgesamt geben diese ausführlicher beschriebenen Studien ein konsistentes Bild. Sie weisen daraufhin, dass offenbar gerade Menschen unter Stress, mit psychischer Vulnerabilität und Menschen, die, sozial bedingt, weniger Nähe zu Grünflächen haben, besonders von urbanem Grün und Naturräumen profitieren.

Inzwischen haben weitere Studien untersucht, ob die Art des Grüns, ob Rasen, Büsche, Bäume, Baumkronen und ob die Gewächshöhe jeweils einen therapeutischen oder präventiven Unterschied ausmachen.

Eine bemerkenswerte Forschungsarbeit ist dieser Frage mittels einer Kohortenstudie mit insgesamt 46.786 Anwohnern aus Sydney und Newcastle in Australien nachgegangen. Es wurde die Struktur ihres unmittelbaren Wohnortgrüns charakterisiert und danach die Häufigkeit von Stress und das allgemeine Gesundheitsbefinden erfragt [9].

In der Datenanalyse zeigte sich, dass das Vorhandensein von mindestens 30 % Grün im Umkreis von 1,6 km mit deutlich geringerer Stressstärke und besserem Gesundheitsempfinden verbunden war.

Bei der Subanalyse zeigte sich zudem, dass es hierbei nicht Rasenflächen oder Büsche/Hecken waren, die diesen Effekt erzielten, sondern höhere Bäume mit intakten Baumkronen. Da Baumkronen eine wesentliche Filterfunktion für Feinstaub haben, könnte hier auch die Luftqualität ein entscheidender kausaler Faktor gewesen sein.

Aktiver Aufenthalt im Wald und in der Natur als Therapeutikum: klinische Evidenz

Weltweit ist in der Städteplanung inzwischen ein Bewusstsein dafür entstanden, dass urbanes Grün und Naturflächen von wesentlicher Bedeutung für die Gesundheit der Stadtbevölkerung sind. Allerdings kollidiert das politisch mit der ebenfalls intendierten Wohnraumverdichtung, die als Ziel die Schaffung von bezahlbarem innerstädtischen Wohnraum hat und damit auch einen relevanten sozialen und sozialmedizinischen Aspekt anspricht.

Neue Trends wie „Urban Gardening“ oder vertikale Begrünung wie z.B. in Singapur, sind sicher interessant und positiv zu bewerten. Wahrscheinlich wird es aber noch viele Jahre dauern, bis moderner Städtebau angemessen die wichtige „Re-Naturierung“ der Städte realisieren kann. Vor diesem Hintergrund kommt der aktiven individuellen Intervention, der aktiven Natur- und Waldtherapie eine wachsende Rolle zu.

Internationaler Vorreiter war Japan mit dem Konzept des Waldbadens. Waldbaden soll die individuelle Gesundheit gezielt durch ausgedehnten Aufenthalt im und die Interaktion mit dem Wald fördern. In Japan und später in Korea und wurden bislang die meisten klinischen Studien zum Wirksamkeitsnachweis des Waldbadens durchgeführt [10][11]. Unklar ist daher, ob die Effekte von Wäldern in Japan oder Korea auch mit Wäldern anderer geografischer Regionen und Klimazonen vergleichbar sind. Daher sind dringend Studien mit mitteleuropäischen Wäldern notwendig, bevor klare Schlussfolgerungen zur Wirksamkeit des Waldbadens bei der europäischen Bevölkerung gezogen werden können.

Weitere Limitierungen in der Bewertung der Evidenz ergeben sich durch die überwiegend sehr kleinen Studienpopulationen in diesen Studien und oftmals das Fehlen einer Kontrollgruppe im Studiendesign.

Indikationen auf Basis der aktuellen Studienlage

Nach der aktuellen Studienlage sind für folgende Indikationen in klinischen Studien günstige Effekte beschrieben [10][11][12][13]:

  • Stress, depressive Verstimmungen und Angststörungen
  • Immunfunktion
  • Bluthochdruck
  • Kognitive Funktion
  • Blutzuckerregulation bei Diabetes Typ 2
  • Wirbelsäulenschmerzen

Die stärkste Evidenz liegt derzeit für Depression sowie die blutdrucksenkende Wirkung des Waldaufenthaltes vor. Hier konnten die Effekte im Vergleich zu Kontrollgruppen jeweils durch Metaanalysen untermauert werden. In den Medien werden häufig die immunmodulierenden Wirkungen des Waldbadens diskutiert. Hier liegen allerdings ausschließlich experimentelle und explorative Daten, aber keine Ergebnisse aus klinischen Studien mit relevanten Endpunkten vor, sodass Schlussfolgerungen zurückhaltend zu ziehen sind.

Wirkmechanismen des Waldbadens

Bezüglich des Wirkmechanismus addieren sich beim Waldaufenthalt, Waldbaden bzw. der aktiven Naturtherapie im Grünen folgende Einzelfaktoren zur Gesamtwirkung [2]:

  • ätherische Öle, Phytonzide bzw. Terpene
  • natürliche visuelle Effekte
  • natürliche Geräusche und Stille
  • Bewegung
  • Temperaturausgewogenheit (v.a. weniger Hitze im Sommer)
  • bessere Luftqualität
Phytonzide

Unter dem Sammelbegriff Phytonzide wird eine Vielzahl von Substanzen zusammengefasst, die über eine intendierte Abwehrfunktion gegenüber Mikroben, Insekten und Fressfeinden pharmakologische Effekte ausüben. Die relevanteste Untergruppe bilden die Terpene, die mehrere Tausend Substanzen mit unterschiedlichen Wirkungen umfassen. Pflanzen nutzen Terpene auch zur Kommunikation. Mit v.a. aus Blättern und Nadeln strömenden Substanzen warnen sie einander vor blattfressenden Insekten. Die Konzentration von Terpenen in der Waldluft hängt von der Tages- und Jahreszeit sowie der Beschaffenheit des Waldes ab. Im Sommer bei höheren Temperaturen ist sie am stärksten.

Die Bedeutung der Terpene hat ein Forscherteam um Qing Li aus Tokio an 12 Versuchspersonen untersucht. 6 Probanden übernachteten in einem Zimmer, ohne zu wissen, dass dort Terpene eingeleitet wurden. Die andere Hälfte schlief in einem Zimmer ohne Terpenzufuhr. An Blutparametern konnte dokumentiert werden, dass eingeatmete Terpene über den Blutkreislauf ins Gehirn gelangen, dort die Produktion stressrelevanter Botenstoffe beeinflussen und die Konzentration natürlicher Killerzellen erhöhen [14].

Die Konzentration der Terpene in der Waldluft ist allerdings mit wenigen Ausnahmen eher gering, sodass ein überwiegender Effekt der Terpene für die Gesamtwirkung unwahrscheinlich erscheint.

Optische Wahrnehmung

Die optische Wahrnehmung von Natur und Wald allein scheint bereits medizinische Wirkungen zu haben.

So konnte in einer eleganten Studie aus Japan nachgewiesen werden, dass das virtuelle Betrachten einer Waldszenerie bereits entspannende und stressreduzierende Wirkungen auf das Gehirn hat. In der Untersuchung wurden Probanden vor einen großen Plasmafernsehbildschirm gesetzt, Gruppe 1 betrachtete für eine Minute ein Bild eines schönen Waldes, Gruppe 2 die Stadtlandschaft einer japanischen Großstadt. Bereits nach 90 Sekunden zeigte sich ein gravierender Unterschied bei den Stresshormonen im Blutbild sowie in der Aktivierung von stressaffinen Arealen in der funktionellen Kernspintomografie. Die Großstadtszenerie erhöhte jeweils den Stress, die Waldbetrachtung führte zu Entspannung [15].

Bereits das virtuelle Betrachten einer Waldszenerie wies in einer Studie entspannende und stressreduzierende Wirkungen auf das Gehirn auf.

Einen zunehmend bedeutenden medizinischen Aspekt bildet die Feinstaubbelastung der Luft in urbanen Regionen und umgekehrt die saubere, durch das Grün gefilterte Luft in Waldgebieten.

In einer klinischen randomisierten Studie aus England wurde verglichen, inwieweit es einen Unterschied macht, körperliche Aktivität (Walking) in einem Park oder neben einer stark befahrenen Straße auszuüben. In dieser Studie wurden Teilnehmer mit leichter Lungen- oder Herzerkrankung und einem Durchschnittsalter von 60 Jahren aufgefordert, einen zügigen Spaziergang entweder an der viel befahrenen Oxford Street in London oder im Hyde Park durchzuführen.

Am Ende der Bewegungseinheit zeigte sich eine Verschlechterung der Lungenfunktion und Arteriensteifheit bei der an der Oxford Street aktiven Gruppe, aber eine Verbesserung der Befunde in der Gruppe, die im Park körperlich aktiv war [16]. Daraus kann nicht nur gefolgert werden, dass Bewegung in der Natur gesund ist, sondern dass gesunde Bewegung bei hoher Abgas- und Feinstaubbelastung an sich sogar eher schädliche Wirkungen hat.

„Nature Pill“ – Natur auf Rezept

Sollte nun der Aufenthalt in der Natur und im Wald als Heilmittel formal anerkannt werden, der Aufenthalt im Wald per Rezept verordnet werden? Ähnlich wie das Rezept für Bewegung scheint dies eine durchaus sinnvolle Überlegung bzw. Option.

Inzwischen ist aber auch ein nicht mehr überschaubarer Markt an Seminaren, Lehrgängen und Ausbildungsformaten entstanden mit teilweise übertriebenen Heilsversprechen. Hier sind weitere Qualifizierungen nötig. Eine Herausforderung ist zudem, dass sich derzeit nicht genau genug beschreiben lässt, wie man die „Nature Pill“ am besten verschreibt und einnimmt.

Kommt es mehr auf das tiefe Einatmen der ätherischen Öle, auf die Kombination mit Bewegung, auf das Spüren und Sehen, die Achtsamkeit oder mehr auf das Haptische bis hin zum Bäumeumarmen an – oder auf die Akustik des Vogelgezwitschers, das Rascheln und die Farbgebung? Können japanische Wälder oder amerikanische Redwood-Wälder mit einem deutschen Mischwald verglichen werden? Hier sind mehr Studien mit vertiefender Einschätzung der differenziellen Therapieeffekte notwendig.

Empfehlungen nach der derzeitigen Evidenz

Was ist nach derzeitigem Stand der Evidenz und der therapeutischen Angebotsentwicklung zu empfehlen?

Prävention

Zu Prävention von psychischen Erkrankungen bzw. der psychischen Gesunderhaltung sowie der pulmonalen und kardiovaskulären Gesundheit sind wohnortnahe urbane Grünflächen wichtig. Hierbei gilt, je natürlicher und diverser die Grünfläche und höher die Bewachsung, desto stärker die Effekte.

Dies weist auf einen Vorteil von Wildwiesen, biodiversem Urban Gardening und auf die Bedeutung von Bäumen und natürlich durchmischten Wäldern hin.

Individuelle Therapie

Für die individuelle Therapie kann der gezielte Aufenthalt in der Natur, am besten im Wald oder biodiversen Grünflächen mit Wassernähe, als besonders effektiv bewertet werden. Unklar ist die optimale Zeitdauer einer Einheit und die Wiederholung der Therapieeinheiten.

Fraktionierte Therapieansätze ersetzen nicht den Naturaufenthalt als Ganzes, können aber durchaus einzelne positive Effekte erzielen. So können beispielsweise Aromatherapie oder Audioaufnahmen mit Vogelgezwitscher angstlösend und stimmungsaufhellend, auch in der Arztpraxis, wirken. Genauso wirken isolierte Faktoren wie Licht, Bilder und Motive von Naturlandschaften und Impressionen.

Auf diese Weise können Einzelfaktoren auch am Arbeitsplatz oder in Wohnräumen salutogenetisch mitwirken.

In den kommenden Jahren wird eine Vielzahl von Studien weitere Daten zu den gesundheitlichen Wirkungen von Natur und Wald generieren. Letztlich aber ist es eine subjektiv so deutliche und fast schon triviale Erkenntnis, dass der Aufenthalt in der Natur und im Wald dem Menschen guttut, dass die Förderung und Empfehlung dieser gleichzeitig alten und neuen Medizin schon jetzt sehr zu unterstützen sind.

Prof. Dr. med. Andreas Michalsen ist Facharzt für Innere Medizin mit den Zusatzbezeichnungen Naturheilverfahren, Ernährungsmedizin, Physikalische Medizin und Balneologie. Nach Stationen in Berlin und Bad Elster war er von 1999–2008 leitender Oberarzt der Abteilung Innere Medizin V, Naturheilkunde und Integrative Medizin der Kliniken Essen-Mitte.

Seit 2009 Inhaber der Professur für klinische Naturheilkunde, Charité – Universitätsmedizin und Immanuel Krankenhaus Berlin sowie Vorstandsvorsitzender der Carstens-Stiftung.

Interessenkonflikt: Der Autor erklärt, dass keine wirtschaftlichen oder persönlichen Verbindungen bestehen.

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[13] Hansen MM, Jones R, Tocchini K. Shinrin-Yoku (forest bathing) and nature therapy: A state-of-the-art review. Int J Environ Res Public Health 2017 doi: 10.3390/ijerph14080851
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