Psychische ErkrankungenFlora und Fauna: Unterstützer bei der Bewältigung psychischer Erkrankungen

Die Naturtherapie als auch die tiergestützte Therapie kann zur Behandlung von Menschen mit psychischen Erkrankungen eingesetzt werden. Untersuchungen zeigen, dass die Interaktion mit Tieren eine Stressreduktion sowie eine Verringerung von Ängsten und depressiven Symptomen bewirken kann. Erfahren Sie mehr über diese zwei unterstützenden Therapieformen.

Eine Frau, die einen Baum umarmt.
feyyazalacam3399/stock.adobe.com

von Sven Steffes-Holländer

Die Interaktion mit Tieren, aber auch der Aufenthalt in der Natur können das seelische Wohlbefinden verbessern — Verschiedene Behandlungskonzepte für Menschen mit psychischen Erkrankungen machen sich diesen Effekt zunutze

Inhalt

Naturtherapie

Tiergestützte Therapie

Tiere können den Kontakt zwischen Patient und Therapeut erleichtern.

Naturtherapie

Seit Ende des 20. Jahrhunderts sind die wissenschaftlich begründeten Naturheilverfahren ein anerkannter Bestandteil des Lehrplans und Prüfungsgegenstand der medizinischen Fakultäten in Deutschland. Sie finden in der Bevölkerung eine breite Akzeptanz und Inanspruchnahme.

Der Schweizer Naturheiler Anton Rikli (1823–1906), der auch „Sonnendoktor“ genannt wurde, begründete im 19. Jahrhundert die „Atmosphärische Kur“. In seiner Heilanstalt Monte Veritá wurden die Patienten mit Wasser-Luft-Licht-Therapien, Beschäftigung an der frischen Luft, intensiven Sonnenbädern und vegetarischer Ernährung behandelt [1].

Die Naturtherapie umfasst ein breites Spektrum an Therapien und Praktiken, die naturbasierte Methoden verwenden, um eine Beziehung zur Natur zu pflegen. Obwohl die Anerkennung der Bedeutung der Umwelt für das seelische Wohlbefinden ein relativ neues Konzept in der westlich geprägten Psychotherapie ist, betrachten indigene Kulturen wie die amerikanischen Ureinwohner das Wohlbefinden des Menschen seit langem als eng mit seiner Umwelt und der natürlichen Welt verbunden.

Wissenschaftliche Studien zur Ökotherapie haben positive Auswirkungen auf das seelische Befinden auf breiter Ebene aufgezeigt:

  • Die Interaktion mit der Natur, Bewegung in der Natur oder sogar das Betrachten von Naturbildern können die kognitiven Funktionen verbessern, insbesondere die Fähigkeit zur gerichteten Aufmerksamkeit [2].

  • Wilsons Biophilie-Hypothese sagte bereits 1984 voraus, dass die psychische Gesundheit der Menschen mit ihrer Beziehung zur Natur zusammenhängt. Zwei Studien überprüften die Zusammenhänge zwischen Naturverbundenheit, Wohlbefinden und Achtsamkeit bei Studierenden, während sozial erwünschte Reaktionen kontrolliert wurden. Signifikante Korrelationen traten zwischen den Maßen an Naturverbundenheit und den Indizes für Wohlbefinden und Achtsamkeit auf [3].

  • Eine Studie in Finnland ergab, dass unter 527 Mitarbeitern Bewegung und Zeit im Freien als die effektivsten Möglichkeiten zur Erholung vom Arbeitsstress eingestuft wurden, wobei die Interaktion mit der Natur an 2. Stelle stand [4].

  • Die Arbeit in der Natur kann Copingstrategien verbessern. Eine Studie ergab, dass Patienten mit anhaltenden psychiatrischen Symptomen eine deutliche Verbesserung der Bewältigungsmechanismen und Selbstwirksamkeit zeigten, nachdem sie 12 Wochen lang 2-mal pro Woche in der Natur mit Nutztieren gearbeitet hatten [5].

  • Der Aufenthalt im Freien kann das Selbstwertgefühl und die sozialen Kompetenzen verbessern. Eine Metaanalyse mit 23 Wildnistherapie-Programmen kam zu dem Ergebnis, dass Wildnistherapie bei der Stärkung des Selbstwertgefühls, der Sozialkompetenz und der Verhaltensänderung bei Jugendlichen wirksam war [6].

Zusammenfassung

Der Aufenthalt in der Natur hat viele positive Effekte auf den Körper und die Seele des Menschen. Wissenschaftliche Studien belegen, dass Aktivitäten in der Natur unter anderem den Stressabbau unterstützen und die kognitiven Fähigkeiten verbessern können. Daher wird Naturtherapie auch zur Behandlung von Menschen mit psychischen Erkrankungen eingesetzt.

Ähnliche Effekte zeigt die tiergestützte Therapie. Sie kommt in vielen klinischen Bereichen zum Einsatz. Untersuchungen zeigen, dass die Interaktion mit Tieren eine Stressreduktion sowie eine Verringerung von Ängsten und depressiven Symptomen bewirken kann.

Anwendungsarten

Naturtherapie ist nicht auf ländliche Idylle beschränkt und kann auch in städtischen Umgebungen wie lokalen Parks, Gärten oder Wäldern praktiziert werden. Mögliche Anwendungsarten sind:

  • Meditationspraxis in einer natürlichen Umgebung, z. B. am Meer oder in einem Park, oder auch als Intervention in der Gruppentherapie, bei der sich die Teilnehmer auf Dinge in der Natur konzentrieren

  • Therapeutische Gartenarbeit, die sowohl Pflege von Gärten als auch den Anbau von Nahrungsmitteln umfassen kann

  • Bewegungstherapie im Grünen: sportliche Betätigung wie Wandern oder Radfahren in Grünanlagen oder im Wald

  • Wildnistherapie, die beinhaltet, in der Wildnis unterwegs zu sein und sich an Gruppenaktivitäten wie z. B. dem Bau von Unterkünften zu beteiligen

  • Erlebnisbasierte Therapieformen wie Klettern, Rafting, Drachenbootfahrten oder Kanutouren

  • Naturschutz und -pflege: eine Kombination aus körperlicher Betätigung und aktivem Naturschutz wie z. B. gemeinsame Müllsammelaktionen als Gruppenaktivität

  • Kunsthandwerk mit Naturmaterialien wie Blättern, Holz oder Erde sowie Materialien, die von natürlicher Umgebung inspiriert sind

  • Tiergestützte Therapie: Bei dieser Intervention wird eine Beziehung zu Tieren, z. B. Hunden oder Pferden, aufgebaut. Die tiergestützte Therapie wird im 2. Teil ausführlicher erläutert.

Gesprächstherapien können auch in der Natur stattfinden, wenn Therapeut und Klient gemeinsam in der Natur gehen oder sitzen. Diese Form wurde vor allem in der Zeit der Covid-19-Pandemie im ambulanten und stationären Setting stärker genutzt, um mit Abstand ohne Mund-Nasen-Schutz kommunizieren zu können.

Ein Naturtherapeut kann seine Klienten nach ihrer Beziehung zur Natur in Vergangenheit und Gegenwart fragen, etwa nach bedeutenden Erinnerungen an die Natur oder die Qualität des Kontakts mit der Natur, den sie täglich haben [7]. Im Gegensatz zu herkömmlichen Therapieformen, bei denen der Therapieraum und das Setting weitgehend der Kontrolle des Therapeuten unterliegen, ist das Setting in der Natur lebendig, verändert sich ständig und kann die therapeutische Interaktion prägen [8].

Waldbaden

Das am besten evaluierte Konzept im Bereich der Naturtherapie ist das Waldbaden (Shinrin Yoku), das als Therapieform 1982 vom japanischen Ministerium für Landwirtschaft als staatliches Präventionsprogramm eingeführt wurde. Seither wird es wissenschaftlich evaluiert. Dabei werden sowohl die physiologischen als auch die psychologischen Aspekte des Aufenthalts im Wald untersucht.

Unter dem Begriff Shinrin Yoku wird die individuelle Erfahrung der Waldumgebung mit allen 5 Sinnen verstanden:

  • die auditive Wahrnehmung der Geräusche des Waldes

  • die visuelle Wahrnehmung der veränderten Lichtverhältnisse sowie der verschiedenen Bäume des Waldbestandes

  • die Anregung des Geschmackssinns durch den Verzehr von Beeren und anderen Waldfrüchten

  • die taktile Erfahrung durch die Berührung von Bäumen

  • die olfaktorische Wahrnehmung von Phytonziden

Wirkmechanismen des Waldbadens

In einem systematischen Review konnten Hansen et al. deutlich positive Effekte hinsichtlich der psychischen Verfassung der Studienteilnehmer nachweisen, wie bspw. eine positive Auswirkung auf stressbedingte Erkrankungen, Depressionen sowie Angststörungen. Daneben konnten präventive Effekte in Bezug auf psychische Erkrankungen nach achtsamen Waldaufenthalten festgestellt werden [9].

Waldbaden kann Cortisolwerte, die als Biomarker für Stress gelten, in unterschiedlichen Studiensettings signifikant beeinflussen [10].

Positive Effekte ließen sich außerdem auf die Senkung des Blutdrucks beobachten. Zurückgeführt wird die Wirksamkeit auf die Beeinflussung des autonomen Nervensystems, da Adrenalin- und Noradrenalin-Werte gesenkt werden. Waldtherapie wird von Ideno et al. in diesem Zusammenhang als effektive Intervention bei Bluthochdruck interpretiert [11].

Qing Li et al. publizierten eine Studie, die zeigte, dass Waldumgebungen Stresshormone wie Adrenalin und Noradrenalin reduzieren [12]. Die Probanden unternahmen Tagesausflüge in einen Waldpark in einem Vorort von Tokio und in ein Stadtgebiet von Tokio als Kontrolle. Der Tagesausflug in den Waldpark senkte den Blutdruck und die Noradrenalin- und Dopaminspiegel im Urin deutlich und erhöhte die Serumspiegel von Adiponektin und Dehydroepiandrosteronsulfat (DHEA-S) deutlich.

Einsatzmöglichkeiten im klinischen Kontext

Die Heiligenfeld Kliniken – als psychosomatische Kliniken – haben aus diesen Erfahrungen heraus für die Naturtherapie 2 Gruppenprogramme konzipiert: den „Heilraum Natur“ und die „Natur als Spiegel“. Die Zuteilung orientiert sich nach dem Strukturniveau der Patienten gemäß der operationalisierten psychodynamischen Diagnostik (OPD), einem Diagnosesystem, das in den 1990er Jahren für psychoanalytische und tiefenpsychologisch arbeitende Psychotherapeuten konzipiert wurde. Im Strukturniveau werden grundsätzliche Fähigkeiten der psychischen Funktionsebenen subsummiert. Dazu gehören z. B. Selbst- und Objektwahrnehmung, Bindungs- und Kommunikationsfähigkeit oder Selbststeuerung.

Heilraum Natur

Patienten mit einem eher geringen bis mäßigen Strukturniveau werden der Gruppe Heilraum Natur zugeordnet. Diese verfolgt die Zielsetzung, die Ich-Struktur und die Selbststeuerung zu fördern sowie die eigenen Ressourcen zu aktivieren. Im Vordergrund stehen dabei das Erleben und Erfahren von Natur als Kraftquelle und Heilraum.

Themen der Module sind dabei insbesondere:

  • Vertrauen finden/aufbauen können

  • Gefühlszustände steuern können

  • die Beziehung zur Natur/sich erden und verwurzeln

  • Natur als Quelle von Ressourcen erleben

  • achtsamer Umgang mit sich selbst und der Welt

  • Selbstfürsorge und Selbstwirksamkeit der Natur

Inhalte sind dabei u. a. die Entwicklung und Sensibilisierung der Sinne durch intensive Sinneserfahrungen, die Erfahrung und das Erleben von Harmonie und Schönheit der Natur, Meditation in der Natur, das Ermöglichen eigener Körpererfahrungen z. B. durch Barfußlauf oder das kreative Gestalten mit Naturmaterialien.

Natur als Spiegel

Das Gruppenangebot Natur als Spiegel ist aufdeckend orientiert und steht für eher gut strukturierte Patienten zur Verfügung. Dabei geht es primär um die Förderung des Bewusstseins innerer Konflikte und die Bearbeitung von Lebensthemen.

Themen der Module sind insbesondere:

  • der eigene Lebenslauf im Spiegel der Natur

  • zu Hause im eigenen Körper sein

  • die Bedeutung von Natur im eigenen Leben (Ressourcen und Gefahren)

  • Brüche und Verbindung im eigenen Leben

  • „satt sein“ vs. „unterernährt sein“

  • Autonomie in der Natur erfahren

  • Vergänglichkeit (Sterben und Tod)

Tiergestützte Therapie

Seit über 50 000 Jahren leben Menschen und Tiere zusammen – wobei die Domestizierung der Haustiere erst vor etwa 15 000 Jahren erfolgte.

Die Möglichkeit, Tiere in einem therapeutischen Kontext einzusetzen, wurde erstmals Ende des 19. Jahrhunderts erkannt, als Florence Nightingale, die als Begründerin der modernen Krankenpflege gilt, einige wesentliche Entdeckungen über tiergestützte Therapie machte. Sie beobachtete, dass kleine Haustiere bei Kindern und Erwachsenen, die in psychiatrischen Einrichtungen leben, dabei halfen, Angstzustände zu reduzieren. In ihrem Buch „Notes on Nursing“ schrieb sie, dass der Umgang mit kleinen Tieren den Patienten helfen kann, sich zu stabilisieren [13].

Auch Sigmund Freud integrierte in den 1930er Jahren seinen Hund „Jofie“ in Psychotherapiesitzungen. Er vermutete, dass Hunde ein besonderes Gespür haben und das Spannungsniveau des Patienten dadurch signalisieren können, in welcher Distanz zum Patienten sie verbleiben. Jofie erwies sich auch als hilfreich, die Kommunikation mit seinen Patienten zu erleichtern: Die Interaktion mit dem Tier konnte als „Sprungbrett“ dienen, um in einen angstfreieren Kontakt zu kommen [14].

Tiere können den Kontakt zwischen Patient und Therapeut erleichtern.

In den frühen 1960er Jahren entdeckte der Psychotherapeut Boris Levinson zufällig die positiven Effekte der Anwesenheit seines Hundes „Jingles“ auf autistische Kinder, die Schwierigkeiten in der verbalen Kommunikation hatten. Mithilfe des Tieres gelang es ihnen leichter, in Interaktion mit dem Therapeuten zu kommen. So entstand die „Pet Facilitated Psychotherapy“, die tiergestützte Psychotherapie [15].

Tiergestützte Therapie umfasst die Gesamtheit an Therapieformen, bei denen Tiere eingesetzt werden. Ziel ist es, Symptome bei psychischen und neurologischen Erkrankungen zu lindern. Hierbei kommen primär Pferde und Hunde zum Einsatz. Pferde werden sowohl beim therapeutischen Reiten als auch in der Psychotherapie integriert. Heutzutage werden vermehrt auch Nutztiere wie Lamas, Esel oder Ziegen eingesetzt. Die Erfahrungen darüber, welche Tierarten in welcher Form eingesetzt werden können, wachsen stetig. Wesentlich dabei ist jedoch das Wohlbefinden – sowohl das des Menschen und als das des Tiers.

Formen tiergestützter Maßnahmen:

  • Tiergestützte bzw. naturgestützte Therapie: Menschen in Gesundheitsberufen mit Zusatzausbildung setzen diese Methoden komplementär in der Behandlung ein, z. B. in den Bereichen Psychotherapie, klinische Psychologie, Gesundheits- und Krankenpflege, Altenpflege sowie Physio- oder Ergotherapie.

  • Tiergestützte bzw. naturgestützte pädagogische Fördermaßnahmen: Pädagogische oder sozialpädagogische Fachkräfte mit einer entsprechenden Zusatzausbildung arbeiten mithilfe tier- bzw. naturgestützter Maßnahmen als Förder- und Unterstützungsmaßnahme.

  • Tiergestützte bzw. naturgestützte Aktivitäten: Unterschiedliche Dienstleistungen werden erbracht, z. B. in Form von Outdoor-Aktivitäten als Freizeitgestaltung. Auch hier sollte ein Weiterbildungskontext vorhanden sein.

Mögliche Einsatzbereiche

Tiergestützte Therapien oder Aktivitäten finden unter anderem Anwendung in den Bereichen Rehabilitation, Pflege- und Seniorenheimen, in Krankenhäusern und Kliniken, sonder- und heilpädagogischen Einrichtungen, in der Pflege, in der Palliativmedizin, der Pädagogik sowie im Rahmen verschiedener Behandlungen wie Psychotherapie oder Ergotherapie.

Sie erfordert eine entsprechende Weiterbildung in diesem Bereich – in der Regel zusätzlich zum Grundberuf wie der Heilpädagogik, Krankenpflege, Medizin, Physiotherapie, Ergotherapie oder Psychotherapie. Oft erfolgt auch eine Zusammenarbeit von mehreren Berufsgruppen, um Mensch und Tier bestmöglich zu begleiten. Dabei müssen Standards in Hinblick auf Hygiene und Tierschutz, inklusive tiermedizinischer Betreuung, beachtet werden. Richtlinien hat u. a. die European Society for Animal Assisted Therapy verfasst [16].

Tiergestützte Achtsamkeit

Bei der Gruppe „Tiergestützte Achtsamkeit“ steht das differenzierte, aber auch spielerische Kennenlernen eigener Fähigkeiten im Umgang mit Tieren im Vordergrund. Lamas und Pferde können das Lernen von Achtsamkeitsprinzipien unterstützen, gar als Lehrer fungieren. Denn sie dulden kein Abschweifen in die Vergangenheit oder in Sorgen in Bezug auf die Zukunft, sondern unterstützen Patienten dabei, sich im Hier und Jetzt zu verankern. Der Umgang mit den feinfühligen und neugierigen Tieren kann sich positiv auf die Stimmung, das Selbstbewusstsein, das eigene Körpergefühl und das Sozialverhalten auswirken. Es fördert die Entwicklung von Bewegungslust und Lebendigkeit. Durch die unmittelbaren Reaktionen der Tiere können Misstrauen und Schwierigkeiten im Kontaktverhalten verringert werden.

Gemeinsam mit den Patienten werden Spaziergänge mit Lamas und/oder Pferden unternommen und anschließend werden die Erfahrungen gemeinsam reflektiert. Die eigene Wahrnehmung wird geschult, insbesondere in Bezug auf das Bewusstsein für ein anderes Lebewesen und dessen Bedürfnisse. Dabei werden auch soziale Kompetenzen wie Einfühlungsvermögen, Geduld und Rücksichtnahme gefördert. Die Gruppentherapie findet bei jeder Witterung (außer bei Vereisung und Starkregen) im Freien statt.

Mensch-Tier-Beziehung

Im Vordergrund jeder tiergestützten Maßnahme steht die Mensch-Tier-Beziehung. Tiere weisen jeweils sehr spezifische Verhaltensweisen auf und zeigen eigene Bedürfnisse. Dabei verhalten sie sich Menschen gegenüber sehr unmittelbar und „verstellen“ sich nicht. Indem man sich auf die Beziehung einlässt, wechselt der Aufmerksamkeitsfokus. Das kann Ängste reduzieren, die Stimmung aufhellen oder Schmerz in der eigenen Wahrnehmung reduzieren.

Der Umgang mit Tieren fördert die Sinneswahrnehmung auf allen Ebenen. So können z. B. auch die Akzeptanz von Einschränkungen oder der Verlust von Sinnesfunktionen wie etwa dem Hörsinn in der Bewältigung gefördert werden.

Die Möglichkeiten durch tiergestützte Therapie sind in dieser Hinsicht vielseitig:

  • kinästhetisch: Wie erlebe ich den eigenen Körper in Interaktion mit dem Tier, z. B. beim Streicheln oder beim Reiten?

  • visuell: Wie sieht das Tier aus, wie bewegt und verhält es sich, wie kann ich es deskriptiv beschreiben?

  • olfaktorisch: Wie riecht das Tier, welche Düfte und Aromen nehme ich wahr?

  • auditiv: Welche Geräusche nehme ich durch das Tier wahr?

  • taktil: Wie fühlt sich das Tier bzw. die Haut oder das Fell des Tieres an?

Indikationen tiergestützter Therapie

Bei der tiergestützten Therapie geht es um die Kontaktaufnahme, die bedingungslose und wertfreie Annahme durch das Tier ohne Bewertung und Vorurteile, das Zulassen von Körperkontakt und Nähe, den Aufbau von Vertrauen, das „Sich-tragen-Lassen“ und dabei Kontrolle abzugeben oder aber auch Führung zu übernehmen.

Besonders geeignet zeigt sich diese Behandlungsform bei Traumafolgestörungen, Ich-strukturellen Störungen, eingeschränkter Selbst- und Fremdwahrnehmung, aber auch bei Depressionen und Angststörungen.

Beim Umgang mit Tieren entsteht eine emotionale Beziehung, die Nähe und Geborgenheit zulässt, die uns öffnet, sich dem anderen emotional anzuvertrauen als „Eisbrecher“ oder „sozialer Katalysator“. Dabei spielt sowohl die nonverbale Kommunikation mittels Körpersprache, Mimik, Stimmlage, aber auch durch Berührung, Blickkontakt, Gestik und Körperspannung eine Rolle. Durch das Entstehen einer gefühlsbetonten, authentischen Beziehung empfinden Menschen mit Belastungen im affektiven und sozialen Bereich den Umgang mit einem Tier im Allgemeinen als besonders bereichernd.

Natur- und Tiergestützte Therapie bei Depressionen

Eine 43-jährige Großstadtbewohnerin kommt mit Depressionen und einer undifferenzierten Somatisierungsstörung in stationäre psychosomatische Behandlung. Sie ist verheiratet und hat 2 Kinder (17 und 11 Jahre alt). Sie beschreibt bei Aufnahme eine schleichende Entwicklung der Symptomatik: Angefangen habe es mit Konzentrationsstörungen bei der Arbeit. Sie habe sich aufgekratzt und gleichzeitig erschöpft gefühlt, wie getrieben. Die innere Unruhe habe dazu geführt, dass sie zunehmend Schlafstörungen entwickelt habe. Im privaten Umfeld sei sie zunehmend gereizt gewesen, es sei ihr alles zu viel gewesen. Sie habe sich zunehmend aus familiären Aktivitäten herausgezogen und auch keine Freundschaften mehr gepflegt.

In der Folge habe sie auch verschiedene körperliche Beschwerden entwickelt: Spannungskopfschmerzen, Durchfälle, Rückenschmerzen und rezidivierende Blasenentzündungen. Ihre Hausärztin habe sie dann krankgeschrieben und ihr eine stationäre Behandlung empfohlen.

In der Klinik fiel es ihr zunächst schwer, Kontakt aufzubauen, sowohl zu den Mitpatienten als auch zur behandelnden Psychologin. Sie agierte sehr misstrauisch und vertrat die Auffassung, dass ihr niemand helfen könne.

Gemeinsam mit dem therapeutischen Team wurde mit ihr eruiert, was für sie in der Vergangenheit Ressourcen gewesen seien. Sie gab an, dass sie als Jugendliche geritten sei und die Urlaube bei den Großeltern auf dem Land immer sehr genossen habe. Wir verordneten ihr daraufhin 2 Gruppen aus unserem kreativtherapeutischen Programm: Tiergestützte Achtsamkeit und Heilraum Natur.

Tiergestützte Achtsamkeit

Die Gruppe „Tiergestützte Achtsamkeit“ fand auf einem nahe gelegenen Kleintierhof statt. Die Patientin kam dort primär in Kontakt mit Lamas und Pferden. Bereits in den ersten Sitzungen war eine deutliche Veränderung spürbar. Es gelang ihr, sich in der Beziehung zu den Tieren authentisch zu verhalten. Die emotionale Mauer, die sie um sich herum errichtet hatte, wurde kleiner. Sie berichtete, dass sie es genießen konnte, sich angenommen zu fühlen und nicht bewertet zu werden. Es gelang ihr durch den Kontakt mit den Tieren, sich besser in der Therapiegruppe zu integrieren und sich auch in den Psychotherapiegruppen zu öffnen. Die Tiere konnten im Therapieprozess eine unterstützende Funktion einnehmen, vermittelten ihr eine Form von emotionalem Rückhalt und konnten somit förderlich auf ihren Verarbeitungs- und Lernprozess einwirken.

Heilraum Natur

In der Gruppe „Heilraum Natur“ gelang es der Patientin, mithilfe von achtsamen Naturbegegnungen die Erfahrungen aus der tiergestützten Therapie zu verfestigen. Sie konnte den Aufenthalt und die achtsamkeitsbasierten Übungen in der Natur als wohltuende Auszeit von ihrem belastenden Alltagsleben erleben. Die Gruppe fand im Parkgelände der Klinik und in einem benachbarten Feuchtbiotop statt. Die Sinnesreize in Park, Wald und Wiese übten eine Faszination auf sie aus, die der städtischen Reizüberflutung eine angenehme „Reizentflutung“ entgegensetzen.

Durch die Erfahrungen in der Natur erlebte sich die Patientin deutlich entspannter und vitaler, die Stimmung besserte sich und sie konnte wieder neuen Lebensmut fassen. Mit ihr gemeinsam wurden Strategien erarbeitet, wie sie diese wichtige Ressource wieder verstärkt in ihren Alltag zu Hause integrieren kann.

Wirkweise tiergestützter Therapie

Neurobiologische Effekte von Mensch-Tier-Interaktionen:

  • Senkung des arteriellen Blutdrucks und der Herzfrequenz [17]

  • Steigerung der Herzratenvariabilität [18]

  • Reduktion des Stresshormons Kortisol insbesondere in stressauslösenden Situationen [19]

  • Aktivierung des Oxytocin-Systems: selbst beim Streicheln eines unbekannten Hundes, wobei beim Streicheln des eigenen Hundes die Erhöhung des Serumspiegels von Oxytocin noch deutlicher ausfällt [20]

Psychosoziale Effekte:

  • Reduktion von Einsamkeit bei Pflegeheimbewohnern [21]

  • Reduktion depressiver Symptome [22]

  • Reduktion von Angstzuständen bei hospitalisierten Patienten [23]

  • Schizophrenie-Patienten werden selbstständiger, alltagskompetenter und entwickeln durch die Bindung zum Tier auch eine höhere Therapie-Compliance [24].

  • Bei Patienten auf psychiatrischen Suchtstationen verbessern sich die soziale Interaktion, das Stationserleben und das suchtpathologische Verhalten [25].

Einsatzmöglichkeiten im klinischen Kontext

Das Zentrum für Tierbegleitete Therapie der Heiligenfeld Kliniken in Bad Kissingen bietet Patienten seit 2018 die Möglichkeit, das eigene Haustier (meistens den Hund) mit in die Therapie einzubeziehen. Der eigene Hund wird als Begleittier mitaufgenommen und als Ressource unterstützend in den Therapieprozess integriert. Zu dem generellen Behandlungskonzept werden weitere tierbezogene Gruppen angeboten, wie z B. „Kommunikation Mensch – Tier“, „Beziehung, Führung und Spiel“, „Achtsamkeit mit dem Tier“ oder „Heilraum Natur für Mensch und Tier“. Die Anwesenheit des Hundes in Einzelgesprächen mit Bezugstherapeut ist möglich. Außerdem bietet eine Hundetrainerin eine offene Sprechstunde an.

Ziele der tierbegleiteten Therapie sind die Förderung der Resilienz und Unterstützung unter Mitwirkung der Ressource des eigenen Tieres, die Förderung der Emotionsregulation und Interaktionskompetenz, die Schulung der eigenen Wahrnehmungs- und Beobachtungsfähigkeit sowie Förderung der Beziehungskompetenz und die Verbesserung der Tier-Mensch-Beziehung. Dadurch vermittelt reduziert sich die klinische Symptomatik, insbesondere bei depressiven Störungen und Angsterkrankungen.

Forschungsergebnisse

In Zusammenarbeit mit dem Forschungsbereich Angewandte Bewusstseinswissenschaften der Abteilung für Psychosomatische Medizin am Universitätsklinikum Regensburg wurden die Ergebnisse der tierbegleiteten Therapie evaluiert. Hierzu wurde ein Fragebogen mit 24 Items entwickelt und bei 360 Patienten zur Entlassung evaluiert.

Faktoranalytisch bildete der Fragebogen 3 Faktoren ab:

  1. die Verbesserung der Beziehung zum Hund

  2. die Verbesserung der sozialen Kompetenzen, der Selbstwirksamkeit und Motivation

  3. die Wirkung auf den Therapieverlauf

88 % der Patienten berichteten die teilweise bis volle Zustimmung zur Verbesserung der Beziehung zum Hund, 82 % eine Verbesserung der sozialen Kompetenzen und 85 % eine positive Wirkung auf den Therapieverlauf. Der Therapieverlauf in direkter Anwesenheit des Hundes wird von 78 % der Patienten positiv bewertet. Der Vergleich der psychischen Verbesserung bei Entlassung liegt bei Patienten, die mit Hund in der Klinik waren, ebenfalls signifikant um 10–20 % höher als bei den übrigen Patienten.

Sven Steffes-Holländer
Facharzt für Psychosomatische Medizin & Psychotherapie

www.steffeshollaender.de

Interessenkonflikt: Der Autor erklärt, dass keine Interessenkonflikte bestehen.

Die Literaturliste finden Sie hier.