InterviewKann die Phytotherapie Long-/Post-Covid-Patient*innen helfen?

„Meiner Erfahrung nach sind viele Long-/Post-Covid-Patient*innen dankbar, wenn sie überhaupt etwas versuchen können“, sagt die Phytotherapie-Expertin Prof. Karin Kraft.

Rosenwurz (Rhodiola rosea) in der schwedischen Natur
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Rhodiola rosea – die Rosenwurz – gehört zu den Adaptogenen und kann laut EMA-Monografie bei Stresssymptomen mit begleitender Fatigue und körperlicher Schwäche eingesetzt werden.

Einige Phytotherapeutika können auf empirischer Basis einen Therapieversuch rechtfertigen. „Meiner Erfahrung nach sind viele Long-/Post-Covid-Patient*innen dankbar, wenn sie überhaupt etwas versuchen können“, sagt Prof. Karin Kraft. Welche Phytotherapeutika infrage kommen und worauf es ankommt, erklärt sie im Interview.

Zu Long-/Post-Covid wird viel geforscht und auch viel ausprobiert. Bei welchen Symptomkomplexen hat die Phytotherapie Potenzial, zu unterstützen?

Wahrscheinlich beim Symptomenkomplex der Fatigue. Die Ursachen der anhaltenden Beschwerden nach einer SARS-CoV-2-Infektion sind ja noch weitgehend ungeklärt. Phytotherapeutika können auf empirischer Basis eingesetzt werden, d.h. bei Symptomen, die auch bei anderen Erkrankungen auftreten und dort in Studien ihre Wirksamkeit gezeigt haben.

Gibt es bestimmte Gruppen von Phytotherapeutika, die vielversprechend sind?

Es sind vor allem die Adaptogene und die Immunmodulatoren.

Pflanzliche Immunmodulatoren können angeborene und adaptive Immunmechanismen aktivieren. Auf diese Weise werden pathogene Einflüsse besser toleriert bzw. günstig beeinflusst. Ich möchte an dieser Stelle betonen: In Laienkreisen wird oft von Immunstimulierung gesprochen. Das ist so nicht richtig. Man kann versuchen, das Immunsystem zu modulieren, wenn es nicht normal funktioniert. Aber das Immunsystem ist äußerst komplex, deshalb ist die Interpretation von im Labor gemessenen Veränderungen ausgesprochen schwierig.

Was zeichnet die Adaptogene aus?

Adaptogene können protektiv gegenüber physikalischen, chemischen und biologischen Stressoren und daraus resultierenden Erkrankungen wirken. Sie haben ein breites Wirkspektrum und sind gut verträglich. Adaptogene werden zur körperlichen und mentalen Stabilisierung und Besserung eingesetzt.

Cannabidiol wird als mögliches Therapeutikum oft angepriesen. Was ist dazu bekannt?

Cannabidiol ist im Augenblick als Immunmodulator in aller Munde. Es wird u.a. als Option für kognitive Symptome bei Long-/Post-Covid vermarktet. In vitro wurde gezeigt, dass es immunmodulatorisch wirken kann durch die Aktivierung von Cannabinoid-2-Rezeptoren. Die Beleglage für die In-vivo-Gabe als Immunmodulator ist allerdings sehr schwach. Es gibt dafür schlicht keine klinische Evidenz.

Welche Phytotherapeutika wären eine Option?

Ein Kandidat ist die Süßholzwurzel. Sie wird in der TCM und auch bei uns angewendet. Speziell zur Behandlung von Long-/Post-Covid existieren natürlich noch keine klinischen Studien, aber eine ganze Reihe von Invitro- und In-vivo-Untersuchungen. In vivo bedeutet hier: im Tierexperiment. Es konnten antiinflammatorische, immunmodulierende, antitussive und antioxidative, aber auch gastro- und hepatoprotektive Wirkungen für die Süßholzwurzel nachgewiesen werden. Hypertoniker*innen sollten jedoch von der Einnahme absehen, da die Süßholzwurzel blutdrucksteigernd wirkt.

Ein Problem ist jedoch, dass kaum noch Arzneimittel auf dem Markt erhältlich sind, die Süßholzwurzel enthalten. Präparate mit Süßholzwurzel sind inzwischen in der Regel Nahrungsergänzung. Damit ist eine genaue Dosierung schwierig. Für die Einnahme als Arzneimittel bleibt vor allem der Arzneitee aus der Apotheke.

Wann kann die Süßholzwurzel eingesetzt werden?

Ein Therapieversuch kann beim Posturalen Orthostase-Syndrom (POTS) erwogen werden, das bei einigen Post-/Long-Covid-Patient*innen auftritt. Die Rationale dahinter wäre die blutdrucksteigernde Wirkung der Süßholzwurzel.

Der Tee ist nach meiner Erfahrung aber nichts für die Dauer, da der Geschmack recht eigen ist. Auf der anderen Seite ist diese Option ziemlich preiswert.

Prof. Dr. med. habil. em. Karin Kraft ist Internistin mit den Zusatzbezeichnungen Naturheilverfahren, Physikalische Therapie und Balneologie. Von 2002 bis zu ihrer Emeritierung 2022 hatte sie die Stiftungsprofessur für Naturheilkunde an der Universität Rostock inne. Karin Kraft ist Expertin auf dem Gebiet der Phytotherapie und Präsidentin der Gesellschaft für Phytotherapie.

Welche Heilpflanzen kommen noch infrage?

Als Adaptogen und gleichzeitig Immunmodulator ist der Ginseng gut untersucht.

Die Ginsengwurzel enthält eine große Menge an bioaktiven Inhaltsstoffen, sodass man bis heute nicht sagen kann, welcher das wirksame Agens ist. Sehr wahrscheinlich sind es mehrere. Die wohl wichtigsten Inhaltsstoffe – die Ginsenoside – befinden sich v.a. in den Faserwurzeln. Der Gesamtextrakt des Ginsengs wirkt in vitro modulierend auf das angeborene und das adaptive Immunsystem. Wahrscheinlich ist auch eine neuroprotektive Wirkung, was im Zusammenhang mit kognitiven Problemen bei Long-/Post-Covid-Patient*innen und auch bei ME/CFS eine Rolle spielen könnte. Zudem wird die mitochondriale Funktion gefördert. Diese könnte nach einigen Hypothesen dafür verantwortlich sein, dass es zu ME/CFS kommt.

In-vitro-Messungen haben gezeigt, dass Dopamin, Noradrenalin und Serotonin im Gehirn ansteigen. In der EMA-Monografie wird die Ginsengwurzel als traditionelle Anwendung bei Fatigue und Schwäche eingestuft. Besonders gut erforscht ist der koreanische Ginseng als die koreanische Nationalpflanze.

In Deutschland sind leider kaum noch Arzneimittel, die Ginseng enthalten, auf dem Markt.

Gibt es klinische Studien zum Ginseng?

Es gibt eine Studie von 2013 zur sog. idiopathischen Chronic Fatigue. Hier hat sich unter der Einnahme von Ginseng der subjektive Schweregrad der Fatigue gebessert. In einer weiteren Studie hat sich bei Ginseng-Einnahme die Fatigue bei MS-Patient*innen gebessert. In der Leitlinie zur Komplementärmedizin in der Onkologie werden vier randomisierte kontrollierte Studien angeführt, die Ginseng bei Fatigue bei onkologischen Erkrankungen untersucht haben. Die Autor*innen sprechen eine Kann-Empfehlung aus, das heißt, Ginseng kann onkologischen Patient*innen bei Fatigue empfohlen werden.

Problematisch ist hier, dass sich die diagnostischen Kriterien für die Fatigue in den letzten 20 Jahren oft geändert haben. Deshalb ist die Einschätzung auf Basis älterer Studien mit Vorsicht zu betrachten.

Das IQWiG hat kürzlich die Evidenz zu ME/CFS gesichtet und zusammengetragen, dort wird auch auf die Diagnosekriterien eingegangen [1].

In der EMA-Monografie wird die Ginsengwurzel als traditionelle Anwendung bei Fatigue und Schwäche eingestuft.

Sind auf dem deutschen Markt Ginseng-Präparate verfügbar?

Es gibt meines Wissens zwei Präparate. Dazu sollte man sich in der Apotheke beraten lassen. Und es gibt Arzneitee mit Wurzelpulver. Beim Tee geht es natürlich wieder darum, wie lange die Patient*innen den Tee tolerieren. Nach meiner Erfahrung schmeckt er akzeptabel, aber das ist Geschmackssache.

Von Nahrungsergänzungsmitteln rate ich dringend ab. Ginseng ist sehr teuer, weil man immer nur die sieben Jahre alte Wurzel für die Arzneimittelherstellung verwenden kann. Demensprechend können die Medikamente nicht günstig sein. In Nahrungsergänzungsmitteln ist oft nur sehr wenig oder gar kein Ginseng enthalten, und man kann nicht sicher sein, welche weiteren Inhaltsstoffe noch enthalten sind.

Die Rosenwurz wird bei Erschöpfung eingesetzt. Hat sie Potenzial bei Long-/Post-Covid?

Ja. Die Rosenwurz gehört zu den Adaptogenen. Die bioaktiven Inhaltsstoffe sind in der Wurzel enthalten: Das sind u.a. Salidrosid, Rosavin und verschiedene Flavonole.

Es sind Rosenwurz-Arzneimittel auf dem deutschen Markt erhältlich. Eines davon ist klinisch besonders gut geprüft. Für das Präparat konnte eine primär über das ZNS ablaufende adaptogene Wirkung nachgewiesen werden, d.h. ein neuroprotektiver Wirkmechanismus. In vitro wurden neuroinflammatorische Stoffwechselwege gehemmt. Dadurch wird die Funktion der Mikroglia verbessert. Auf dieser Basis könnte der Einsatz bei kognitiven Störungen, wie sie beim Long-/Post-Covid-Syndrom auftreten, sinnvoll sein.

Ist die Rosenwurz monografiert?

Ja, die EMA hat eine Monografie erarbeitet und stuft die Rosenwurz als traditionelles pflanzliches Medizinprodukt ein zur Anwendung bei Stresssymptomen mit begleitender Fatigue und körperlicher Schwäche. Also, anders als der Ginseng wirkt die Rosenwurz nach aktuellem Kenntnisstand rein adaptogen.

Der Einsatz der Rosenwurz könnte bei kognitiven Störungen, wie sie beim Long-/Post-Covid-Syndrom auftreten, sinnvoll sein.

Existieren klinische Studien zur Rosenwurz?

Ja. In der EMA-Monografie sind randomisierte, placebokontrollierte Studien mit einem Präparat, dessen Wurzelextrakt auf 3 % Rosavin und 0,8 bis 1 % Salidrosid standardisiert ist, angeführt. In den Untersuchungen konnten stressbedingte Erschöpfungssyndrome gebessert werden. Außerdem ist eine Verbesserung der Schlafarchitektur beschrieben. Zudem konnte bei leichten bis mittelschweren depressiven Episoden eine Wirksamkeit nachgewiesen werden.

Das sind alles Symptome, die auch bei Long-/Post-Covid-Patient*innen auftreten können. Kognitive Dysfunktionen können natürlich Ängste und Depression begünstigen. Und für das Fatigue-Syndrom ist bekannt, dass dabei die Schlafarchitektur gestört ist.

Gibt es noch weitere Heilpflanzen, die möglicherweise sinnvoll sein könnten?

Aus meiner Erfahrung kann man einen Therapieversuch mit Ginkgo biloba in Erwägung ziehen. Das Arzneimittel ist zwar für das demenzielle Syndrom zugelassen. Aber bei kognitiven Beeinträchtigungen nach einer SARS-CoV-2-Infektion ist es einen Versuch wert. Man muss den Patient*innen natürlich erklären, dass bei ihnen keine Demenz in Betracht gezogen wird.

Welche Erfahrungen haben Sie mit Ihren Long-/Post-Covid-Patient*innen?

Mit Ginkgo habe ich ein paar positive Rückmeldungen von Patient*innen erhalten. Auch bei der Rosenwurz gab es ein paar positive Rückmeldungen, aber genauso viele negative. Für die Süßholzwurzel sind die Erfolge überschaubar, hier ist der Tee ein bisschen das Problem, weil ihn die Patient*innen wegen des Geschmacks über längere Zeit nicht besonders gut tolerieren.

Ich denke, das Krankheitsbild ist sehr heterogen. Hinzu kommt, dass es bislang keine Messmethoden gibt, um Erfolge oder Misserfolge der Therapie zu objektivieren, auch nicht in der konventionellen Medizin.

In der Therapie von Erkrankungen sollte man auf zugelassene Arzneimittel zurückgreifen.

Warum ist es so wichtig, Arzneimittel und nicht Nahrungsergänzungsmittel einzunehmen?

Der Grund ist: Arzneimittel und Nahrungsergänzungsmittel unterliegen zwei verschiedenen Gesetzen. Für Arzneimittel gilt das Arzneimittelgesetz. Darin wird geregelt, dass Qualität, Verträglichkeit und Wirksamkeit belegt sein müssen. Der entscheidende Punkt ist hier die Qualität, die nachgewiesen sein muss, wenn ein Arzneimittel zur Zulassung eingereicht wird. Das heißt, v.a. die Inhaltsstoffe und deren Dosierung müssen standardisiert sein.

Das ist bei Nahrungsergänzungsmitteln nicht der Fall. Diese unterliegen der Nahrungsergänzungsmittelverordnung und müssen beim Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit (BVL) vor dem Inverkehrbringen angezeigt werden. Das BVL nimmt keinerlei Bewertung, Prüfung oder Zulassung der angezeigten Nahrungsergänzungsmittel vor, das heißt, weder Qualität noch Verträglichkeit oder Wirksamkeit müssen nachgewiesen worden sein.

Die Wirksamkeit kann natürlich auch nicht belegt werden, da Nahrungsergänzungsmittel definitionsgemäß nur von Gesunden zur Verbesserung ihrer Gesundheit angewendet werden sollen. Andernfalls, also wenn medizinische Indikationen angegeben werden, gilt das als Verstoß gegen das Arzneimittelgesetz.

Das bedeutet natürlich nicht, dass Nahrungsergänzungsmittel grundsätzlich nichts taugen. Es gibt Hersteller, die sorgfältig an der Qualität arbeiten und auf deren Präparate man sich verlassen kann.

Aber soweit es möglich ist, sollte man in der Therapie von Erkrankungen auf zugelassene Arzneimittel zurückgreifen.

Nahrungsergänzungsmittel sind ja oft deutlich günstiger?

Das ist die Frage, die man sich hier stellen muss. Wenn ich ein Nahrungsergänzungsmittel kaufe, das völlig unterdosiert ist, kann ich keine Wirkung erwarten. Dann ist das Nahrungsergänzungsmittel viel teurer als das Arzneimittel. So argumentiere ich auch gegenüber meinen Patient*innen.

Wenn Sie ein Fazit ziehen: Auf welcher Basis können Phytotherapeutika eingesetzt werden bei Long-/Post-Covid?

Der Einsatz erfolgt rein empirisch. Das heißt, man kann einen Therapieversuch starten und beobachten, ob eine Verbesserung eintritt. Und man sollte natürlich auf das Nebenwirkungsprofil der einzelnen Phytotherapeutika achten, damit im individuellen Fall keine unerwünschten Wirkungen auftreten.

Meiner Erfahrung nach sind viele Long-/Post-Covid-Patient*innen dankbar, wenn sie überhaupt etwas versuchen können. Auch in der konventionellen Medizin sind ja viele Fragen zu Post-/Long-Covid offen und die Behandlungsoptionen äußerst rar. Das IQWiG hat ganz aktuell die Studienlage in einem Bericht zu ME/CFS publiziert [1]. Dort kann man sich gut einen Überblick verschaffen. Und das Forschungsnetzwerk NAPKON hat auf seiner Homepage alle laufenden Forschungsaktivitäten zu Covid-19 gebündelt [2].

Das Gespräch führte Anke Niklas.

Literatur

[1] IQWiG. Myalgische Enzephalomyelitis/Chronic Fatigue Syndrome (ME/CFS) – Aktueller Kenntnisstand. Im Internet: https://www.iqwig.de/download/n21-01_me-cfs-aktueller-kenntnisstand_abschlussbericht_v1-0.pdf

[2] NAPKON – Nationales Pandemie-Kohorten-Netz. Im Internet: https://napkon.de/