AdipositasAdipositas und Typ-2-Diabetes im Kindes- und Jugendalter

Übergewicht, Adipositas und die assoziierten Folgeerkrankungen sind ein ernstzunehmendes Problem für die Gesundheit von Kindern und Jugendlichen.

Kind mit Übergewicht, welches sein Hemd nicht schließen kann.
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Sporterziehung ist schon vor Corona häufig ausgefallen und nun haben Bildschirmzeiten den kindlichen Bewegungsdrang ersetzt. Wie kommen wir da wieder raus?

von Angeliki Pappa

Einleitung

In den vergangenen Jahren war oft die Rede von einer drohenden Epidemie der Adipositas auch im Kindes- und Jugendalter. Und in der Tat kann man immer häufiger das Vorkommen von übermäßigem Gewicht, bezogen auf die altersentsprechenden Perzentilen beobachten.

Auch die aktuelle COVID-19-Pandemie hat hierzu beigetragen, da sie in Verbindung mit den herrschenden Schutzmaßnahmen und Restriktionen Auswirkungen auf diese vulnerable Altersgruppe hat. Insbesondere Kindern und Jugendlichen fehlte der organisierte Sport, sie hatten lange Zeiten vor dem Bildschirm und z. T. ungeregeltes Essverhalten. Man spricht bereits von einer „stillen Epidemie“ im Sinne der gesundheitlichen Schäden, die in der Folge der Corona-Pandemie entstehen.

Neben den Auswirkungen der Adipositas auf das Selbstbild, die psychische Verfassung und Stabilität (Gefahr von Mobbing und Ausgrenzung) der Heranwachsenden, sorgen sich Kinder- und Jugendmediziner – und alle weiteren mit der Behandlung befassten Akteure im Gesundheitswesen – um die somatischen Auswirkungen der Adipositas. Zu nennen sind hier z. B.:

  • metabolisches Syndrom,

  • nichtalkoholische Fettleberkrankheit (NAFLK),

  • polyzystisches Ovarsyndrom und

  • nach der peripheren Insulinresistenz auch ein manifester Diabetes mellitus Typ 2.

Statistik

Daten der KiGGS Welle 2 [1]

  • Der Anteil übergewichtiger Kinder liegt bei den 3- bis 6-jährigen Mädchen bei 10,8 % und bei den Jungen bei 7,3 %.

  • Bei den 14- bis 17-jährigen Mädchen sind bereits 16,2 % übergewichtig und 18,5 % bei den Jungen in dieser Altersgruppe.

  • 3,2 % der 3- bis 6-jährigen Mädchen und 1,0 % der Jungen in diesem Alter sind adipös.

  • Der Anteil steigt stetig an auf 7,7 % bei den 14- bis 17-jährigen Mädchen bzw. 9,2 % bei den Jungen.

Merke

Im Gegensatz zu Typ-1-Diabetes ist das Vorkommen von Typ-2-Diabetes (T2D) im Kindes- und Jugendalter eher selten.

Die Schätzungen diesbezüglich basieren auf dem bundesweiten DPV-Register (Diabetes-Patienten-Verlaufsdokumentation), auf dem Diabetesregister in Nordrhein-Westfalen und einer Befragung von Kliniken und Praxen in Baden-Württemberg und Sachsen. Danach lag die Inzidenz des dokumentierten T2D bei den 11- bis 18-Jährigen in den Jahren 2014–2016 bei 2,8 pro 100 000 Personenjahren. In diesem Alter erkrankten 2014–2016 also jährlich circa 175 Kinder und Jugendliche. Die T2D-betreffende Prävalenz wird mittlerweile jedoch auf 12–18 pro 100 000 geschätzt. Das würde bedeuten, dass 950 Kinder und Jugendliche betroffen sind [2].

In Deutschland ging man 2021 davon aus, dass 6 % der Kinder adipös und 13 % übergewichtig sind, das wären somit doppelt so viele wie noch vor 10 Jahren. Eine Glukosetoleranzstörung wird für 12 % der sehr adipösen Menschen angenommen. Für das Auftreten von T2D geht man von einer Verfünffachung in den letzten 10 Jahren aus.

Je nach Bundesland lassen sich für den BMI-SDS (Standard Deviation Score, Abweichung vom Mittelwert) Unterschiede finden – mit den höchsten Werten in Schleswig-Holstein, Hamburg und Sachsen-Anhalt [3]. Meist handelt es sich dabei um schwer adipöse Jugendliche, wobei das weibliche Geschlecht mit 57 % deutlich überwiegt [2].

Die Unterschiede lassen sich z. T. erklären durch sozio-ökonomische Unterschiede und regionalen Mangel an materiellen und sozialen Ressourcen, wie z. B. dem Mangel an spezialisierten Einrichtungen, aber auch durch individuelle Unterschiede im Sozialstatus.

Praxistipp

Bei einer Diabetes-Manifestation kann die Unterscheidung zwischen Typ 1 und Typ 2 durch die zunehmende Anzahl von Adipösen erschwert sein: 8,5 % der Manifestationen im Alter von 11–20 Jahren werden als T2D identifiziert [3].

Auch wenn der T2D nur eine Minderheit der Diabetes-Patienten betrifft, ist schon allein das Auftreten besorgniserregend.

Was sind die häufigsten Ursachen für Adipositas bei Kindern und Jugendlichen?

Die Imbalance von Bewegungsmangel und zu energiereicher Ernährung, verbunden mit individuellen Risikofaktoren, führt zu Übergewicht und Adipositas.

Zu den individuellen Risikofaktoren gehören neben der familiären Veranlagung oder den genetischen Faktoren, Risikofaktoren in Schwangerschaft und in der früh-postnatalen und Säuglingszeit sowie dem Lebensstil mit wenig Bewegung und dem Verzehr von kalorienreichen Lebensmitteln und gesüßten Getränken auch die Lebensumstände von Kindern und Jugendlichen. Dazu zählen die insgesamt ständige Verfügbarkeit von Lebensmitteln und auch die sitzende oder liegende Position in Verbindung mit vermehrten Bildschirmzeiten.

Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) empfiehlt für Kinder < 3 Jahren, am besten gar keine Zeit mit Bildschirmmedien zu verbringen, für Kinder zwischen 3 und 6 Jahren nicht länger als 30 Minuten und für Heranwachsende ab 6 Jahren höchstens 60 Minuten am Tag.

Das klingt in Zeiten von digitalem Unterricht jetzt überholt, aber gerade in diesem Zusammenhang sollte die verbleibende Freizeit dann mit anderen Aktivitäten genutzt werden, die das Körpergefühl und die Freude an der Bewegung fördern sollen.

Vorsicht

Oft ist die Bildschirmzeit mit einem erhöhten Verzehr von energiedichten Lebensmitteln verbunden.

Besonders kritisch einzustufen ist die Einblendung von Werbung für „Kinderlebensmittel“, die oft überzuckert oder übermäßig fetthaltig sind, was das Ernährungsverhalten negativ beeinflussen kann.

Wer trägt die Verantwortung für eine gesunde Ernährung?

Aufklärung und Appelle an die Eigenverantwortung sind richtig, aber laufen ins Leere für diejenigen Altersgruppen, die noch bei den Eltern leben und leicht beeinflussbar sind.

Im aktuellen Gesundheitsbericht Diabetes [4] nimmt Barbara Bitzer, Geschäftsführerin der Deutschen Diabetes Gesellschaft (DDG), dazu Stellung und berichtet, dass die Deutsche Allianz für Nichtübertragbare Krankheiten (DANK) sich für eine ganzheitliche Strategie engagiert. So sollte u. a. der eingeführte Nutriscore für alle Hersteller von Lebensmitteln verpflichtend sein.

Zentrale Forderungen an die Politik

  • Ein Verbot von an Kinder gerichteter Werbung für ungesunde Lebensmittel und Getränke
  • Eine höhere Besteuerung adipogener Lebensmittel bei gleichzeitiger Entlastung gesunder Lebensmittel (sogenannte „Zuckersteuer“)
  • Verbindliche Qualitätsstandards für die KiTa- und Schulverpflegung
  • Täglich mindestens eine Stunde Sport in KiTa und Schule

Merke

Mit dem Begriff „Kinderlebensmittel“ dürfen nicht besonders zucker- und fettreiche Nahrungsmittel gemeint sein!

 Der Gesetzgeber sollte eindeutige Höchstmengen für kritische Nährstoffe vorgeben; in anderen Ländern funktioniert das schon. Auch Großbritannien führt Anfang 2022 entsprechende Gesetze ein, sodass TV-Werbespots für „Junkfood“ erst nach 21 Uhr gesendet werden dürfen und die Online-Werbung und Streamingdienste diesbezüglich reglementiert werden. Die Verbraucherorganisation „foodwatch“ fordert ähnliche Beschränkungen für Deutschland – und nicht nur für das Fernsehen: Werbung für ungesunde Lebensmittel erreicht die Zielgruppe auf dem Smartphone oder Tablet direkt und auch unbegleitet durch Eltern. So erreichten Posts für ungesunde Lebensmittel auf Facebook bis zu 10,6 Mrd. mal pro Tag die Zielgruppe der 3- bis 13-Jährigen [4].

Merke

Zukünftige Maßnahmen sollen auf eine weniger adipogene Umgebung in den Medien zielen.

Das kritische Zeitfenster des Kleinkindes, Schulkindes und Jugendlichen für die Erziehung zu einem gesunden Lebensstil zu nutzen, ist immens wichtig. Denn die metabolischen Störungen des Kindesalters setzen sich sonst in das Erwachsenenalter fort.

In einem Statement äußerte sich die Europäische Fachgesellschaft für pädiatrische Gastroenterologie, Hepatologie und Ernährung (ESPGHAN) ebenfalls zu diesem Thema: „Die Arbeitsgruppe Ernährung der ESPGHAN fordert, dass öffentliche Gesundheitsbehörden politische Maßnahmen durchsetzen mit dem Ziel einer Reduktion des Konsums von freiem Zucker bei Säuglingen, Kindern und Jugendlichen“ [5].

Solche Schritte könnten beinhalten:

  • Öffentliche Bildungskampagnen über den Einfluss von übermäßigem Konsum von freiem Zucker und über die gesundheitlichen Vorteile einer Reduktion von freiem Zucker

  • Verbesserte Kennzeichnung von Lebensmitteln und Getränken, um Konsumenten auf den Anteil von freiem Zucker aufmerksam zu machen

  • Verstärkte Beschränkungen der Vermarktung und Werbung von zuckerhaltigen Produkten

  • Richtlinien zur Begrenzung von freiem Zucker in Kindergarten- und Schulmahlzeiten

  • Finanzpolitische Maßnahmen, wie z. B. die Besteuerung von zuckerhaltigen Produkten und Anreize für gesunden Nahrungsmittelkonsum

Weitere Risikofaktoren für die Entstehung von Übergewicht bei Kindern sind auch bestimmte Lebensbedingungen wie Schlafmangel, Stress oder Komorbiditäten mit psychischen Erkrankungen wie Depressionen oder Essstörungen. Zusätzlich können psychosoziale Umstände auf verschiedenen Wegen zu Adipositas führen, wie z. B. ein niedriger Sozialstatus der Familie. Hierbei kann Armut den Zugang zu „gesunden“ Lebensmitteln und ebenso zu körperlich aktiven Freizeitbeschäftigungen erschweren.

Auch andere Formen sozialer Benachteiligung wie das Aufwachsen in sozial benachteiligten Wohngebieten können die Entwicklung der Adipositas begünstigen. So sind Kinder und Jugendliche mit niedrigem sozio-ökonomischen Status etwa 4-mal häufiger von Adipositas betroffen.

In seltenen Fällen sind syndromale Erkrankungen, Stoffwechselerkrankungen oder Medikamente, die für eine andere Grunderkrankung verabreicht werden, verantwortlich für die Entstehung von Übergewicht und Adipositas [6].

Coronavirus-Pandemie

Im Zuge der aktuellen Coronavirus-Pandemie kam es zur „adipogenen“ Konstellation mehrerer Faktoren:

  • Pandemie-bedingte Einschränkung von Bewegungsangeboten und -möglichkeiten

  • mehr Bildschirmzeiten

  • hoher Medienkonsum

  • Distanzunterricht

  • Fehlende Strukturen des Tagesablaufs und des Soziallebens gingen einher mit mehr Nahrungsaufnahme.

In einer Pressemitteilung vom 21. Juni 2021 äußerten sich DGKJ und AGA/DAG. So berichtete AGA-Sprecherin PD Dr. Susann Weihrauch-Blüher: „Wir dokumentieren in unseren Spezialsprechstunden Gewichtszunahmen von bis zu 30 kg in 6 Monaten – Einzelfälle, aber „Rekorde“ dieser Art mehren sich. Es gibt bei Kindern einen derart klaren Anstieg an Adipositas während der coronabedingten Lockdowns, dass wir hier von einer zweiten, einer „stillen Pandemie“ sprechen. Zudem beobachten wir bei Jugendlichen eine deutliche Zunahme der Neumanifestationen von Typ-2-Diabetes.“

In einer COVID-19-Studie der TU München aus dem September 2020 zeigte sich, dass Kleinkinder und Vorschulkinder ihr Gewicht in der Pandemiezeit eher gehalten haben. Aber vor allem Schulkinder, insbesondere die 10- bis 12-Jährigen, haben zugenommen. Die Eltern gaben zu fast 40 % an, dass die Kinder in dieser Zeit weniger aktiv waren, wiederum die 10- bis 14-Jährigen zu 57 % [7].

Ergebnisse der zweiten Befragung der COPSY-Studie zeigen tiefgreifende Veränderungen im Bewegungsverhalten unserer Gesellschaft an. Nach Angaben der Eltern bzw. der Kinder sind etwa 40 % nicht mehr sportlich aktiv. Im Vergleich zur Zeit vor der Pandemie sind das 10-mal mehr Kinder [8]. Auch vor der Pandemie stellte der vierte deutsche Kinder- und Jugendsportbericht 2020 fest, dass 80 % der Kinder und Jugendlichen zwischen 6 und 14 Jahren die WHO-Empfehlung von 60 Minuten Mindestbewegungszeit nicht erreichen [9]. In manchen Familien schränken auch die Ängste der Eltern die Kinder in ihrem Bewegungsradius ein.

Merke

Weniger Aktivitäten im Freien und immer mehr sitzende Beschäftigung gerade auch durch Digitalisierung und zusätzlich in Zeiten von „Home-schooling“ kennzeichnen die aktuelle junge Generation.

Betreuung und Anpassung der Strategien

In der Komplexbehandlung können verschiedene Akteure eines interdisziplinären Teams individuell auf die Bedürfnisse der Familien eingehen. Hierzu gehören Diabetesberater*innen, Physiotherapeut*innen, Psycholog*innen, Sozialdienst sowie Ärzte und Ärztinnen.

Diagnostik

Wann sollte ein oraler Glukosetoleranztest durchgeführt werden?

Zur Früherkennung eines T2D ab dem 10. Lebensjahr bei Übergewicht (BMI > 90. Perzentile) und dem Vorliegen von mindestens 2 der folgenden Risikofaktoren:

  • Typ-2-Diabetes bei Verwandten 1. und 2. Grades

  • Zugehörigkeit zu Bevölkerungsgruppen mit erhöhtem Risiko (z. B. Ostasiaten, Hispanier, Afroamerikaner)

  • extreme Adipositas (BMI > 99,5. Perzentile)

  • Zeichen der Insulinresistenz oder mit ihr assoziierte Veränderungen wie arterielle Hypertonie, Dylipidämie, erhöhte Transaminasen, Polyzystisches Ovarsyndrom, Acanthosis nigricans

 Daran schließen sich die Empfehlungen zur weiteren Untersuchung auf mögliche Komorbiditäten und diabetesbedingte Komplikationen bei neu diagnostiziertem T2D an [10]:

  • Blutdruckmessung

  • Nüchtern-Lipidprofil mit Bestimmung von Cholesterin, HDL, LDL und Triglyzeriden

  • Bestimmung der Transaminasen (Steatosis hepatis)

  • Mikroalbuminausscheidung

  • Augenhintergrunduntersuchung in Mydriasis

Schulung und Ernährungsberatung für die Eltern

Auf die Erkennung der Erkrankungen Übergewicht, Adipositas und T2D folgt das erklärende Gespräch mit Patienten und Eltern. In diesem Aufklärungsgespräch sollten motivierende Zielsetzung und Zukunftsaussichten mit einbezogen werden. Die Schulung und Behandlung kann am besten in einer multimodalen Komplexbehandlung mit Diabetesberater*innen, Physiotherapeut*innen, Psycholog*innen, Sozialdienst, Ärzten und Ärztinnen stattfinden.

Dabei ist die individuelle Ernährungsberatung von zentraler Bedeutung, bei der einerseits entsprechend dem Patientenalter informiert und geübt werden sollte und andererseits die Eltern, die für Einkäufe und die Versorgung zuhause zuständig sind, mit zu einem neuen Verständnis geführt werden sollen.

Therapie

Lebensstiländerung

An erster Stelle steht die Anleitung zur Lebensstilveränderung mit Veränderung der Essgewohnheiten und Anleitung zu mehr Bewegung und körperlicher Aktivität, was idealerweise in Form eines strukturierten Adipositasprogramms stattfinden sollte.

Pharmakotherapie

Nach den Empfehlungen der AGPD [10] ist bei einem initialen HbA1c-Wert > 9 % oder bei einer spontanen Hyperglykämie > 250 mg/dl und bei Zeichen von absolutem Insulinmangel wie Ketonurie und Ketoazidose schon initial die Insulintherapie indiziert.

Ansonsten ist als orales Antidiabetikum Metformin für die Altersklasse ab 10 Jahren zugelassen und ist gut effektiv bezogen auf Stoffwechselkontrolle und Gewichtsstabilisierung oder -reduktion [10].

Ebenfalls zugelassen ab 10 Jahren ist die Behandlung mit dem GLP-1-Rezeptoragonisten Liraglutid bei manifestem T2D. Von der EMA ebenfalls zugelassen sind Setmelanotid bei dem seltenen genetisch bestätigten Proopiomelanocortin-(POMC-) Mangel ab 6 Jahren und Amfepramon für eine maximal 12-wöchige Anwendung ab 12 Jahren. Letzteres unterliegt wegen unerwünschten Nebenwirkungen aktuell einer Überprüfung.

Merke

Therapieziele sind das Erzielen von Nüchternglukose < 126 mg/dl und ein HbA1c-Wert von < 7 %. Weiterhin ist auf die Behandlung der Komorbiditäten im Sinne des metabolischen Syndroms zu achten.

Neu ist seit 2021 die Zulassung für Liraglutid zur Behandlung der Adipositas für Jugendliche ab 12 Jahren. 6 Jahre, nachdem der Wirkstoff für Erwachsene mit Adipositas zugelassen wurde, hat die EMA nach aktueller Datenlage die Empfehlung für Jugendliche ab einem Körpergewicht von 60 kg und mit einem Ausgangs-BMI, der mindestens einem Erwachsenen-BMI von 30 kg/m2 entspricht, ausgesprochen. Als Voraussetzung wird die Kombination mit gesunder Ernährung und erhöhter körperlicher Aktivität benannt. Ziele sind Reduktion des BMI oder BMI-z-Scores um mindestens 4 % nach 12 Wochen. Die Kostenübernahme durch die Krankenkassen muss geklärt werden.

Welche Rolle spielen Eltern/Familie?

Die häusliche Umgebung spielt eine ganz entscheidende Rolle: Die Eltern wirken als Vorbilder, bestimmen normalerweise, welche Lebensmittel eingekauft werden und wie Mahlzeiten zubereitet werden, auch ob gemeinsame Mahlzeiten stattfinden.

Praxistipp

In der Behandlung sollte hinterfragt werden, ob die Eltern die Bemühungen um eine Gewichtsregulation/-reduktion unterstützen und wirklich um eine gesundheitsfördernde Lebensführung bemüht sind.

Auch die Nutzung von Bildschirmmedien wird durch die Eltern mitbestimmt, angefangen mit der Anschaffung und Verfügbarkeit der entsprechenden Geräte, über den Umgang damit und das Mediennutzungsverhalten allgemein. Andererseits können durch gemeinsame Familienaktivitäten alternative Angebote geschaffen werden.

An wen kann sich die Familie wenden, um etwas gegen Übergewicht zu unternehmen?

Ansprechpartner sind die Kinder- und Jugendärzte, wo auch die Vorsorgeuntersuchungen stattfinden und im Weiteren:

  • Ernährungsberatungspraxen, die erfahren sind im Umgang mit Kindern und Jugendlichen
  • Bewegungsprogramme
  • bei Notwendigkeit der Ursachenforschung oder bei gesundheitlichen Komplikationen im Stoffwechsel, der seelischen Gesundheit oder des Bewegungsapparates Überweisung zu Spezialambulanzen, z. B. Uniklinik, Kinderpoliklinik mit endokrinologischer Sprechstunde, Kinder- und Jugendpsychiatrie, Kinderorthopädie
  • Ernährungsmedizinische Schwerpunktpraxen, Ökotrophologen, Diätassistenten, Psychologen
  • Beratungsstellen, Krankenkassen

Merke

Das gemeinsame Vorgehen von Therapeuten, Fachgesellschaften und politischen Entscheidungsträgern ist entscheidend, um gegen das Entstehen von Adipositas anzugehen und um für die Betroffenen Besserung erreichen zu können. 

Hilfreiche Hinweise

  • RKI AdiMon Themenblätter: Übergewicht und Adipositas im Kindesalter
  • RKI Themenblatt AdiMon Armut
  • BMI-Rechner für Kinder: adipositas-gesellschaft.de/aga/bmi4kids/
  • Gesellschaft für pädiatrische Gastroenterologie und Ernährung (www.gpge.eu), z. B. Leitfaden zu Zuckerkonsum bei Säuglingen, Kindern und Jugendlichen
  • Arbeitsgemeinschaft Adipositas im Kindes- und Jugendalter: www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/050–002.html
  • Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung BzGA: www.bzga.de
  • Bundeszentrum für Ernährung: www.bzfe.de/
  • Initiative für gesunde Ernährung und mehr Bewegung Deutschlands INFORM: www.in-form.de
  • Netzwerk Junge Familie: www.gesund-ins-leben.de

Kernaussagen

  • Eine altersentsprechende gesunde Ernährung und regelmäßige körperliche Bewegung bedingen Gesundheit und Leistungsfähigkeit.
  • Weniger Aktivitäten im Freien und immer mehr sitzende Beschäftigung gerade auch durch Digitalisierung und auch in Zeiten von „Homeschooling“ kennzeichnen die aktuelle Generation.
  • Die seit 2 Jahren bestehenden Veränderungen durch die Coronavirus-Pandemie haben die negative Entwicklung hin zu vermehrtem Übergewicht und Adipositas bei Kindern und Jugendlichen beschleunigt.
  • Insbesondere Kindern und Jugendlichen fehlt durch die Pandemie-bedingten Beschränkungen der organisierte Sport. Sie sitzen oder liegen lange vor dem Bildschirm und haben z. T. ungeregeltes Essverhalten.
  • Um gegen das Entstehen von Adipositas anzugehen, ist das gemeinsame Vorgehen von Eltern, Therapeuten, Ernährungsberatern, Fachgesellschaften und politischen Entscheidungsträgern entscheidend.
  • Die Chance des kritischen Zeitfensters im Kindes- und Jugendalter gilt es, in gebündelten therapeutischen Bemühungen zu ergreifen. 

Angeliki Pappa
Fachärztin für Kinder- und Jugendmedizin mit der Zusatzweiterbildung Kindergastroenterologie

1 Schienkiewitz A, Brettschneider AK, Damerow S. et al. Übergewicht und Adipositas im Kindes- und Jugendalter in Deutschland – Querschnittsergebnisse aus KiGGS Welle 2 und Trends. J Health Monit 2018; 3: 16-23 DOI: 10.17886/RKI-GBE-2018-005.

2 Rosenbauer J, Neu A, Rothe U. et al. Types of diabetes are not limited to age groups: type 1 diabetes in adults and type 2 diabetes in children and adolescents. J Health Monit 2019; 4: 29-49 DOI: 10.25646/5987.

3 Deutsche Diabetes Gesellschaft, DDG. Deutscher Gesundheitsbericht 2021, Kapitel Versorgung von Kindern und Jugendlichen mit Diabetes. Mainz: Verlag Kirchheim; 2021: 245-255

4 Bitzer B, Fey F, Vité S. Warum ein Werbeverbot für süße und fettige Snacks längst überfällig ist. In: Deutsche Diabetes Gesellschaft. Deutscher Gesundheitsbericht Diabetes 2022. Mainz: Verlag Kirchheim; 2021: 255-260 Im Internet: www.deutsche-diabetes-gesellschaft.de/fileadmin/user_upload/Gesundheitsbericht_2022_final.pdf

5 ESPGHAN. Im Internet:. www.espghan.org/knowledge-center/publications/Nutrition/2018_Sugar_Intake_in_Infants__Children_and_Adolescents Stand: 24.01.2022

6 Robert Koch-Institut. AdiMon-Themenblatt Armut. 2020. Im Internet: www.rki.de/DE/Content/Gesundheitsmonitoring/Studien/Adipositas_Monitoring/Kontext/PDF_Themenblatt_Armut.pdf?__blob=publicationFile Stand 24.01.2022

7 Koletzko B, Holzapfel C, Schneider U. et al. Lifestyle and body weight consequences of the COVID-19 pandemic in children: increasing disparity. Ann Nutr Metab 2021; 77: 1-3 DOI: 10.1159/000514186.

8 Ravens-Sieberer U, Kaman A, Otto C. et al. Psychische Gesundheit und Lebensqualität von Kindern und Jugendlichen während der COVID-19-Pandemie – Ergebnisse der COPSY-Studie. Dtsch Arztebl Int 2020; 117: 828-829 DOI: 10.3238/arztebl.2020.0828.

9 Breuer C, Joisten C, Schmidt W. Hrsg. Vierter Deutscher Kinder- und Jugendsportbericht – Gesundheit, Leistung, Gesellschaft. Deutscher Bundestag Ausschussdrucksache 2020; 19: 313 ISBN 978–3–7780–9180–7

10 Deutsche Diabetes Gesellschaft. S3-Leitlinie der DDG und AGPD 2015: Diagnostik, Therapie und Verlaufskontrolle des Diabetes mellitus im Kindes- und Jugendalter. AWMF-Registernummer 057–016. Im Internet: www.deutsche-diabetes-gesellschaft.de/fileadmin/user_upload/05_Behandlung/01_Leitlinien/Evidenzbasierte_Leitlinien/2016/DM_im_Kinder-_und_Jugendalter-final-2016–20170223.pdf Stand: 24.01.2022