OnkologiePräzisionsmedizin: Warum innovative Therapien oft nicht eingesetzt werden

Tumoren können inzwischen präzise analysiert werden und offenbaren präzise Zielpunkte für Medikamente. In der Versorgungsrealität aber kommen neue Behandlungsansätze oft nicht zum Einsatz. 

Illustration Gentherapie: Krebszelle und DNA Helix
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Verbesserte Technologien zur DNA-Sequenzierung ermöglichen, therapeutisch relevante Varianten einer (Tumor)-DNA zu bestimmen.

Warum innovative Behandlungen oft in der Versorgungsrealität steckenbleiben

Jeder Tumor ist individuell. Und er kann häufig mit modernsten Analysemethoden innerhalb kurzer Zeit in all seinen Eigenschaften „ausgelesen“ werden. So offenbart er präzise, individuelle Zielpunkte für Medikamente, die ihn ausschalten – das ist das Prinzip der Präzisionsonkologie.

In der Versorgungsrealität aber kommen – nach Auswahl geeigneter Patient*innen und aufwändiger Diagnostik – neue Behandlungsansätze dann oft nicht zum Einsatz. Wo steht die Präzisionsmedizin also aktuell – in der Forschung, aber auch in der Versorgung? Wie kann Präzisionsmedizin angesichts hoher Kosten und Aufwände im Versorgungsalltag etabliert werden, und wie viele Menschen profitieren schon heute von den innovativen Methoden? 

Tumoren derselben Krebsart können bei verschiedenen Menschen unterschiedliche zelluläre und genetische Eigenschaften, etwa bestimmte Mutationen, aufweisen. Sie sorgen dafür, dass bei gleicher Therapie die Behandlung bei unterschiedlichen Betroffenen unterschiedlich gut anschlägt. „Diese Erkenntnisse – zusammen mit der rasanten Entwicklung technischer Verfahren der Hochdurchsatzdiagnostik – eröffnen nie dagewesene Möglichkeiten einer hochpräzisen, maßgeschneiderten Medizin der Zukunft“, sagt der Onkologe Prof. Andreas Neubauer.

Wo Präzisionsmedizin die Behandlung grundlegend verändert hat

Präzisionstherapie ist noch nicht überall in der Krebsmedizin anwendbar. Bei einzelnen Krebsarten hat sie die Behandlung bereits grundlegend verändert:

  • Lungenkrebs: So weisen etwa 30 - 50 % der Patienten mit nicht-kleinzelligem Lungenkrebs bestimmte Mutationen auf, die mit einer zielgerichteten Therapie angesteuert werden können. Selbst Patient*innen mit fortgeschrittenem Krebs können so heute viele Jahre und mit weniger Nebenwirkungen leben. Demgegenüber beträgt die Überlebenszeit bei der Behandlung mit einer klassischen Chemotherapie nur wenige Monate.
  • Mastdarmkrebs: Ein spektakuläres Beispiel für zielgerichtete Therapie zeigte sich 2022 auch beim Rektumkarzinom: US-Amerikanische Wissenschaftler hatten in einer Studie bei 12 Betroffenen mit fortgeschrittenem Mastdarmkrebs, bei denen eine bestimmte Veränderung (Mikrosatelliteninstabilität) im Tumor entdeckt wurde, eine zielgerichtete Immuntherapie angewandt. Daraufhin bildete sich der Tumor bei allen vollständig zurück – ohne weitere Chemotherapie, Bestrahlung oder OP. Allerdings: Nur etwa 5 - 10 % der an Mastdarmkrebs Erkrankten weisen diese Veränderung als Zielstruktur auf.

Molekulare Tumorboards: Brücke zwischen Technologie und Klinik

Bei vielen Krebsarten muss die Wirksamkeit präzisionsmedizinischer Ansätze in Studien erst noch nachgewiesen werden.

„Präzisionsonkologie kommt aktuell v.a. für Betroffene infrage, bei denen die Standard-Krebstherapie ausgeschöpft ist, die aber dennoch eine ausreichende Lebenserwartung haben. Typischerweise sind das junge Patient*innen oder solche mit seltenen Krebsarten“, sagt die Onkologin PD Dr. med. Elisabeth Mack. Am Anfang steht dann die Analyse der Tumoren mit modernen technischen Verfahren.

„Das Next Generation Sequencing etwa – eine verbesserte Technologie zur DNA-Sequenzierung – macht es heute möglich, alle diagnostisch oder therapeutisch relevanten Varianten einer (Tumor)-DNA einschließlich einiger komplexer Biomarker innerhalb weniger Tage auszulesen.“ Diese Genomsequenzierungen und die sich aus ihnen ableitenden Möglichkeiten der Therapie werden dann in sogenannten molekularen Tumorboards, die in Zentren für personalisierte Medizin angesiedelt sind, besprochen. Hier wird das genomische, biologische und klinische Wissen von Expert*innen unterschiedlicher Qualifikationen zusammengeführt – eine aufwändige und ressourcenintensive Tätigkeit.

Empfohlene Behandlung wird oft nicht umgesetzt

„Umso bedauerlicher ist es, dass die von Molekularen Tumorboards empfohlenen Therapien dann nur in etwa ein Drittel der Fälle durchgeführt wird – weil es an klinischen Studien mangelt, in die die Betroffenen eingeschlossen werden könnten, und Krankenkassen die Bezahlung der noch nicht zugelassenen Therapien oft ablehnen“, so Mack. „Im Ergebnis zeigt sich dann in den Daten, dass aktuell nur etwa 3 - 10 % aller Krebspatienten einen klinischen Nutzen von der Präzisionsmedizin haben. Würden jedoch tatsächlich alle Patient*innen nach den Empfehlungen der Molekularen Tumorboards behandelt, profitierten sie in etwa 30 % der Fälle.“

Welche Lösungen gibt es und was sollten Betroffene beachten?

„Wenn die hochspezialisierte und aufwändige Tätigkeit, die molekulare Tumorboards erbringen, viel zu oft nur ins Leere läuft, stellt das eine gigantische Verschwendung von Ressourcen dar – hier brauchen wir unbedingt bessere Konzepte“, sagt Neubauer. „Ein Ansatz etwa könnte sein, dass Behandlungskosten unter der Voraussetzung übernommen werden, dass sie an zertifizierten Zentren stattfinden, und die Patienten in Registerstudien eingeschlossen werden – so wäre sichergestellt, dass vielversprechende Ansätze der Präzisionsmedizin im Sinne einer akademisch-klinischen Wissenschaft tatsächlich erforscht werden.“

Neubauer rät Krebs-Patient*innen: „Gehen Sie für Ihre Behandlung an ein von der DKG zertifiziertes Krebszentrum – an diesen Zentren liegen die besten Qualifikationen und Erfahrungen vor, welche Therapie für Sie persönlich die beste ist“.

Kosten ohne Ende?

Die Kosten im Gesundheitssystem steigen unaufhaltsam, was seit längerem in bisher unwirksamen gesundheitspolitischen Initiativen mündet. Präzisionsmedizin kann sehr teuer sein, auch wenn sie bisher nur einen geringen Anteil an den gesamten Gesundheitskosten hat. „Statt sich über die hohen Kosten wirksamer Behandlungsmaßnahmen den Kopf zu zerbrechen, sollten wir auf alles verzichten, was nachweislich für unsere Patient*innen keinen Vorteil bringt. In USA schätzen die Autoren einer Metaanalyse die Verschwendung im Gesundheitssystem auf ca. 25% der Gesamtkosten, sagt der Kardiologe Prof. Georg Ertl.

Terminhinweis

Die Chancen, Grenzen, Nutzen und Kosten der Präzisionsonkologie, und in welchen Fachbereichen außerhalb der Onkologie sie relevant werden könnte, wird ein Thema auf dem 130. Internistenkongress in Wiesbaden sein.

Quelle: Deutsche Gesellschaft für Innere Medizin