TriageDas rechtliche Dilemma der Triage

Das Triage-Gesetz bringt Ärzt*innen in eine Zwickmühle und kriminalisiert sie, sagt die Konstanzer Juristin Alexandra Windsberger. Sie plädiert für einen Rückzug des Strafrechts aus der Triage.

Richterhammer und Stethoskop
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Eine ergebnismaximierte Herangehensweise bei einer Triage könnte die Sterberate um 6 Prozent senken, so die Juristin Alexandra Windsberger.

Wenn eine Katastrophe mit vielen Schwerverletzten eintritt und die medizinischen Hilfsmittel nicht für alle ausreichen, müssen Ärzt*innen entscheiden, wem geholfen wird – und wem nicht. Diese Auswahl wird als Triage bezeichnet.

Aufgrund von Engpässen auf Intensivstationen während der Corona-Pandemie folgte 2022 ein neues Triage-Gesetz in Deutschland. Die aktuellen Bestimmungen zur Triage bringen Ärzt*innen jedoch in ein Dilemma, sagt die Konstanzer Juristin Dr. Alexandra Windsberger: Das Triage-Gesetz verbietet ihnen, Kriterien wie Alter, Gebrechlichkeit und Vorerkrankungen heranzuziehen, um eine fundierte Entscheidung zu treffen.

Die zuverlässigsten Kriterien seien verboten. Die Konsequenz: Eine Triage nach gegenwärtiger deutscher Gesetzeslage würde zu mehr Todesopfern als nötig führen – und kriminalisiert die Ärzt*innen, die nach medizinischen Kriterien Hilfe zuweisen.

Nach Simulationsstudien der Universität Augsburg würde eine ergebnismaximierte Herangehensweise (einschließlich Ex-Post-Triage, die in Deutschland verboten ist) die Letalitätsrate um 6 Prozent senken. „Das Gesetz schreibt momentan das Verfahren vor, das mit der höchsten Letalitätsrate verbunden ist“, so Windsberger. „Dieser Verzicht auf Effizienz ist nicht rechtfertigbar.“

Strenge Differenzierung zwischen Tun und Unterlassen

Alexandra Windsberger plädiert dafür, Ärzt*innen in der Triage mehr Entscheidungshoheit zu geben und die (Ex-Post-)Triage zu entkriminalisieren. „In einem ersten Schritt wäre mit einem Rückzug des Strafrechts aus der Triage viel gewonnen.“ Sie plädiert insbesondere dafür, in der Triage die strenge Differenzierung zwischen Tun und Unterlassen fallenzulassen. „Ist ein Behandlungsabbruch ein Tun oder ein Unterlassen? Für die Strafbarkeit spielt das eine große Rolle. Wenn wir im Fall der Triage beides gleich bewerten würden, würde die Situation an Dramatik verlieren.“

Ärzt*innen könnten dann Behandlungen zugunsten von aussichtsreicheren Behandlungen abbrechen und Hilfsmittel neu zuteilen, ohne mit einem Tötungsdelikt belastet zu werden.

Verbotene Kriterien

Im nächsten Schritt appelliert Alexandra Windsberger an den Gesetzgeber, die momentan verbotenen Kriterien Alter, Gebrechlichkeit und Vorerkrankungen für die Triage zuzulassen – unter der Bedingung, dass dies ausschließlich in einem transparenten und gut dokumentierten Verfahren nach dem Mehr-Augen-Prinzip erfolgen darf. „Es lassen sich Wege für eine effizienzbasierte Triage finden, die mit der Menschenwürde vereinbar ist“, schließt Alexandra Windsberger.

Nach Artikel 1 des Deutschen Grundgesetzes zählt jedes Menschenleben gleich. Kein Mensch ist mehr oder weniger wert als ein anderer Mensch. „Die Basisgleichheit des Menschen ist die größte Errungenschaft der Verfassung. Sie ist unser wichtigstes Schutzschild: Menschen können nicht eingeteilt werden in ‚rettenswert‘ und ‚nicht-rettenswert‘“, unterstreicht die Juristin.

„In der Ausnahmesituation einer Triage wird eine strenge Auslegung von Artikel 1 aber zum Hindernis für Ärzt*innen“, zeigt Windsberger das Problem auf: Um mit begrenzten Hilfsmitteln möglichst viele Menschen zu retten, müssten die Ärzt*innen deren Überlebenschancen einschätzen und dafür Kriterien wie Alter, Gebrechlichkeit und Vorerkrankungen heranziehen. Das Gesetz verbietet ihnen aber genau das, weil dadurch vulnerable Personengruppen benachteiligt werden könnten: insbesondere Senior*innen sowie Menschen mit Behinderung oder Vorerkrankungen.

Besonders heikel ist es, wenn die Ärzt*innen Behandlungen abbrechen, um andere Patient*innen mit höherer Überlebenschance vorzuziehen, oder bereits zugewiesene Hilfsmittel neu umverteilen (Ex-Post-Triage). In diesem Fall machen sich die Ärzt*innen nach gegenwärtiger Rechtslage strafbar, bis hin zum Tötungsdelikt mit lebenslanger Freiheitsstrafe: weil sie einem Menschen aktiv Hilfe entzogen haben, mit Todesfolge für die betroffene Person.

Rechsphilosophische Betrachtung

In der rechtsphilosophischen Betrachtung der Triage gibt es zwei Hauptströmungen:

  • Die egalitaristische Position orientiert sich eng an Artikel 1 und schlussfolgert, dass keinerlei Ungleichbehandlung in einer Triage stattfinden darf. Bei der Frage, wie begrenzte Hilfsmittel verteilt werden, müsste demnach quasi gewürfelt oder gelost werden. Das Problem der egalitaristischen Position: Hilfsmittel werden mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht effizient verteilt. In Summe werden weniger Menschen gerettet.
  • Demgegenüber steht die utilitaristische Position, die möglichst viele Menschenleben retten will. Nach dem Prinzip der Ergebnismaximierung sollen die Hilfsmittel möglichst effizient verteilt werden, wobei auch eine Umverteilung im Nachhinein (Ex-Post-Triage) denkbar ist. Das Problem der utilitaristischen Position: Hier werden definitiv Überlebenschancen – und damit Menschenleben – kategorisiert und gegeneinander abgewogen.

Dr. Alexandra Windsberger ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Professur für Strafrecht, Strafprozessrecht, Strafrechtsvergleichung, Medizinstrafrecht und Rechtstheorie der Universität Konstanz. Sie befasst sich mit strafrechtlichen Fragestellungen der Unterlassung, insbesondere im Medizinrecht. Für ihre Forschung zum Triage-Gesetz wurde sie mit dem Posterpreis Junge Wissenschaft 2023 auf dem 5. interdisziplinären Kongress „Junge Wissenschaft und Praxis“ der Hanns Martin Schleyer-Stiftung und der Heinz Nixdorf Stiftung in Kooperation mit der Berliner Charité ausgezeichnet. 

Universität Konstanz

Literatur

Bartenschlager CC, Brunner JO, Heller AR. Evaluation von scorebasierten Ansätzen für die Ex-post-Triage auf Intensivstationen während der COVID-19-Pandemie: eine simulationsbasierte Analyse. Notfall + Rettungsmedizin 2022; https://link.springer.com/article/10.1007/s10049-022-01035-7

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