PräventionKneipp-Medizin: Ganzheitliches Therapiesystem im Aufwind

Die Kneipp-Medizin mit ihren 5 Elementen bildet ein ganzheitliches Lebensstilkonzept, das sich hervorragend zur Prävention, aber auch zur Behandlung zahlreicher gesundheitlicher Störungen eignet.

Armbad, Kneipp
K. Oborny/Thieme

Die Hydrotherapie bildet eines der 5 Elemente der Kneipp-Medizin.

von Robert M. Bachmann

Inhalt

Grundlagen der Kneipp-Medizin
Indikationen
Kontraindikationen
Grundlagen der Kneipp'schen Hydrotherapie
Wirkungen der Hydrotherapie
Grundprinzipien
Anwendungsbeispiel: Kneipp bei Hypotonie

Grundlagen der Kneipp-Medizin

Die Kneipp-Therapie bezeichnet das nach ihrem Urheber Sebastian Kneipp (1821–1897) benannte Konzept des Lebensstils zur Prävention und Therapie. Das Konzept kann auf über 100 Jahre Anwendungserfahrung zurückblicken. Die Kneipp-Therapie ist wissenschaftlich durch Fachdisziplinen wie Physikalische Medizin, Sportmedizin, Ernährungswissenschaft, Heilpflanzenkunde sowie Psychosomatik untermauert. Sie strebt unter vorbeugender und therapeutischer Nutzung der natürlichen Reize wie warmes und kaltes Wasser, Licht, Luft, Bewegung usw. eine Regelung der Lebensweise nach natürlichen Gesichtspunkten an.

Sie bietet ein optimales Therapiekonzept im Sinne hippokratischer Lebensführung („Diaita“): „Wer stark, gesund und jung bleiben will, sei mäßig, übe den Körper, atme reine Luft und heile sein Weh eher durch Fasten als durch Medikamente.“

Die Einzelkomponenten können allein oder in Kombination zur Prävention, Therapie und Nachbehandlung bei einer Vielzahl von akuten und vor allem chronischen Krankheitsbildern eingesetzt werden. Die fünf Therapieelemente sind:

  • Lebensordnung
  • Ernährung
  • Bewegung
  • Wasser
  • Heilpflanzen

Mit diesen fünf Therapieelementen stellt die Kneipp-Therapie in der derzeitigen symptom- und medikamentenorientierten Medizin ein ausgezeichnetes präventives und therapeutisches Konzept für den gesundheitsbewussten Menschen dar.

 Je nach Gesundheitszustand (Prävention, Therapie, Rekonvaleszenz) ist die Reizstärke von entscheidender Bedeutung: Angepasste, gut dosierte und wiederholte Reize stärken, zu große Reize schaden (z. B. Erschöpfung nach zu großer körperlicher und geistiger Anstrengung). Über individuell gewählte Reize werden die Selbstheilungskräfte des Körpers aktiviert.

Angepasste, gut dosierte Reize stärken. Zu große Reize schaden.

Indikationen

Die wichtigsten Indikationen für die Kneipp’schen Verfahren sind:

  • Herz- und Kreislauf-Störungen, z. B. Hypotonie, Hypertonie, Orthostase-Syndrom, Durchblutungsstörungen der Arterien und Venen, Störungen des Lymphsystems
  • nervöse Störungen, z. B. körperliche und geistig-seelische Erschöpfungszustände bei Überlastung, Niedergeschlagenheit, depressive Verstimmungszustände, psychosomatische Erkrankungen, Schlafstörungen
  • Stoffwechselstörungen wie Adipositas, Kachexie, Fettstoffwechselstörungen, Gicht, Diabetes mellitus
  • entzündliche und nichtentzündliche Erkrankungen des Stütz- und Bewegungsapparats, z. B. Arthritis, Arthrose, chronische Polyarthritis im nicht akut entzündlichen Stadium, Osteoporose, Gicht und Weichteilrheumatismus, unterstützend bei Fibromyalgie, CFS
  • Erkrankungen der Bauchorgane, z. B. Koliken ohne Fieber, Reizmagen, Reizdarm
  • Nieren-, Blasen-, Prostataerkrankungen
  • Frauenkrankheiten, z. B. Periodenstörungen, chronische Entzündungen der Beckenorgane, Störungen in den Wechseljahren
  • Erkrankungen der Atemwege, z. B. chronische Entzündungen der Luftwege

Kontraindikationen

Nicht anzuwenden ist die Kneipp-Therapie bei schweren Krankheitszuständen, die einer stationären, klinischen Behandlung bedürfen oder sich im akuten Stadium befinden. So gehören z. B. schwere Herz-, Nieren-, Leber- und Hirnleistungsschwäche, aber auch Infektionskrankheiten, Tuberkulose, aktive Entzündungen von Leber und Niere, Suchtkrankheiten, schwere psychische Erkrankungen sowie eine ausgeprägte Überfunktion der Schilddrüse zu den Gegenanzeigen.

Grundlagen der Kneipp’schen Hydrotherapie

Die Kneipp-Wassertherapie kennt über 120 verschiedene Anwendungen. Jede Anwendung erfolgt nach ärztlicher Verordnung. Die praktische Behandlung sollten fachkundige Personen (Kneipp-Bademeister) vornehmen. Dies geschieht in manchen Fällen am besten im Rahmen einer Kneipp-Kur. Anschließend trägt der Kurgast das Wissen um die Anwendungen nach Hause und führt sie dort weiter durch – im Sinne eines alltäglichen Gesundheitsprogramms zur Aufrechterhaltung des Wohlfühlens und zur Vorbeugung.

Die Temperatur, die zeitliche Dauer der Anwendungen sowie die Anzahl der (täglich oder wöchentlich) durchzuführenden Anwendungen können gezielt auf die individuellen Belange eingestellt werden. Dadurch ergeben sich praktisch unbegrenzte Dosierungsmöglichkeiten.

Wichtig ist, dass die Wasseranwendung als angenehm empfunden wird. Der Erfolg der Kneipp-Therapie setzt allerdings eine gewisse Regelmäßigkeit voraus, weshalb die einzelnen Anwendungen genauso wie das Zähneputzen selbstverständlich in den Alltag integriert werden sollten.

Wichtig ist, dass die Wasseranwendung als angenehm empfunden wird.

Wirkungen der Hydrotherapie nach Kneipp

Wasser dient in erster Linie als Träger von Reizen. Ein Temperaturreiz – etwa ein Kaltreiz – veranlasst den Körper zu einer Ausgleichsreaktion, um das Wärmegleichgewicht zu erhalten – die Gefäße ziehen sich zusammen. Es folgt eine Reaktionsphase mit verbesserter Durchblutung und aktiver Wiedererwärmung. Durch die wiederholte Anwendung werden die Gefäße optimal trainiert, sodass sie mit der Zeit immer schneller auf Temperaturreize reagieren können.

Der Reiz wird lokal gesetzt. Er wirkt aber nicht nur lokal, sondern beeinflusst auch die ihm zugeordneten Organe und das vegetative Nervensystem. So kann z. B. ein Fußbad die Durchblutung der Schleimhäute im Nasen- Rachen-Raum fördern oder sich auf die Unterleibsorgane, die Harnwege sowie den Verdauungstrakt auswirken. Die Wasseranwendungen nach Kneipp sind physikalische Verfahren, deren Wirksamkeit wissenschaftlich nachgewiesen werden konnte.

Die Kneipp-Behandlung wird oft irrtümlich als Kaltwasser-Therapie betrachtet, es werden jedoch auch warme Wasseranwendungen und Wechselanwendungen verabreicht. Warme Bäder und Wickel wirken durchblutungsfördernd und entspannend und helfen rasch bei Verkrampfungen und Erkältungen. Kalte Anwendungen werden v. a. bei Entzündungen, zur Fiebersenkung und allgemein zur „Abhärtung“ des Organismus eingesetzt. Die Kneipp-Wassertherapie regt auf natürliche Weise Kreislauf und Stoffwechsel an und steigert die Abwehrkräfte. Somit können auch konstitutionsbedingte Schwachstellen des Organismus durch eine gezielte Kneipp-Therapie günstig beeinflusst werden.

Ein Reiz wird lokal gesetzt, wirkt aber nicht nur lokal: z.B. kann ein Fußbad die Durchblutung der Schleimhäute im Nasen-Rachen-Raum fördern.

Grundprinzipien

Um positive Reaktionen bzw. eine Regulation zu erreichen, sollten die hydrotherapeutischen Anwendungen die folgenden Voraussetzungen erfüllen:

  • Akute Krankheitsprozesse erfordern eher Kaltreize, chronische Krankheitsprozesse sind eher durch Warmreize und schonende Wechselreize zu behandeln.
  • Das subjektive Wohlbefinden ist wichtigster Parameter nach einer richtig dosierten Wasseranwendung (Fehlreaktionen wären z. B. Herzklopfen nach einem Vollbad oder Frieren nach einer Kaltanwendung auf kalte Haut).
  • Jeglicher Kaltreiz darf nur am warmen Körper und auf warmer Haut verabreicht werden (ggf. Vorerwärmung durch Bewegung oder warmes Wasser, Bettwärme).
  • Nach jeder Anwendung ist die Wiedererwärmung wichtig.
  • Keine Anwendung unmittelbar vor oder nach den Mahlzeiten (Zeitabstand mindestens ½ Stunde) oder nach starker körperlicher Belastung; auch genügend Abstand (2–4 Stunden) zwischen den Anwendungen; auf ausreichend Ruhe und Entspannung achten.
  • Vegetativ oder gefäßaktive Genussmittel wie Kaffee, Tee oder Alkohol meiden; Nikotin vor oder nach der Anwendung kann die Wirkung vollständig aufheben.
  • Wirkungsverstärkung durch bloßes Abstreifen des Wassers nach Güssen, danach warm anziehen.

Zwei Faustregeln gilt es zu beachten:

  • Je weiter von der Körpertemperatur (ca. 37oC) entfernt, desto größer die behandelte Haut-/Körperfläche.
  • Je länger die Dauer der Anwendung, desto stärker ist der zu verarbeitende Reiz für den Organismus.

Auch die gewählte Tageszeit spielt wegen der wechselnden Körpertemperatur eine Rolle, außerdem die körperliche und geistig-seelische Konstitution.

Beispiele für geeignete Tageszeiten und jeweilige Anwendungen :

  • morgens/früh im Bett: Ganzwaschung, Wickel, Heusack
  • vormittags/später Vormittag: Güsse, Bäder
  • früher Nachmittag: Teilbäder (z.B. am Arm, am Fuß)
  • später Nachmittag: z.B. Schwimmen

Astheniker sind meist stärker wärmebedürftig. Hier werden Teilbäder und kürzere, kleinere temperierte Anwendungen bevorzugt (z. B. Wechselarm-, Wechselfußbad, Wechselarm-, Wechselknieguss).

Athletiker sind häufig kälte- und wärmesensibler als erwartet. Sie vertragen meist temperierte Anwendungen ohne extreme Warm- oder Kaltreize.

Pykniker und Plethoriker vertragen meist kräftige, größere Kaltanwendungen. Häufig verlangen sie intuitiv danach (Beinwickel, Wechselschenkel-Unterguss, Leib- oder Kurzwickel)

Hydrotherapeutische Anwendungen verbessern die vegetative Regulationsfähigkeit und Stabilität und damit die meisten funktionellen Krankheitsbilder. Zudem bessern sie psychovegetative Erschöpfungszustände („Revitalisierung“) und vermögen ggf. Organstörungen zur Abheilung zu bringen oder zu verhindern

Am besten werden Wasserreize kurmäßig nach einem bestimmten ansteigenden Reizschema und genau dosiert verabreicht. Es ist jedoch selbst bei kalten Wasseranwendungen nie die Kälteentwicklung das Ziel, sondern immer das Erreichen körpereigener Wärme bzw. die Regulierung im Wärmehaushalt (wichtig etwa bei rheumatischen Erkrankungen, niedrigem Blutdruck und Infektanfälligkeit).

Reizstärke

Für die Reizstärke gilt:

  • Zu kleine Reize schwächen.
  • Gut dosierte mittlere Reize kräftigen/fördern die Lebensfunktionen.
  • Übergroße Reize schaden.

Warmes Wasser hat primär einen beruhigenden, vagotonisierenden und alkalisierenden Effekt (z. B. warmes Wannenbad). Bei Übertreibung der Dauer oder Temperatur kann es jedoch auch den gegenteiligen Effekt haben (Aufgeregtheit, Nervosität, Schlafstörungen, v. a. bei Hypotonie oder orthostatischer Regulationsstörung). Befindet sich der Körper in unterkühltem oder wenig belastbarem Zustand, so eignen sich meist Wechselanwendungen besser. 

Temperaturbereiche:

 Kalt      Temperiert     Kühl                Indifferenzbereich    Warm          Heiß    
 0-18°C      19-22°C 23-28°C     32-35°C 36-38°C    ab 39°C

 

Reizstärken von Wasseranwendungen:

 Reizstärke                Wasseranwendungen      
 Reizstärke I
 (schwache
 Reize)

 Teilwaschungen
 Teilbäder
 Wechselteilbäder
 kleine Güsse

 

 Reizstärke II 
 (mittlere
 Reize)

 Ganzwaschung
 Trockenbürsten
 Wassertreten
 Halbbad kalt
 Halbbad mit kalter Abgießung
 Wechselgüsse
 Waden- und Armwickel

 

 Reizstärke III
 (starke
 Reize)
 kalte Güsse (Unter-, Rücken-, Ober-, Vollguss)
 Lumbalguss heiß
 heiße Blitzgüsse
 Dreiviertel-, Vollbäder mit kalter Abgießung
 temperaturansteigende Teilbäder
 Wechselsitzbad
 größere Wickel
 Heusack
 Leibauflagen

 

Vorgehen

Es wird stets begonnen mit der mildesten Anwendung, die gerade noch zur gewünschten Reaktion führt. Ziel ist die gleichmäßige milde Rötung im Sinne einer Mehrdurchblutung (Vasodilatation und Histaminausschüttung).

Fehlreaktionen können sich zeigen durch anhaltende Blässe oder bläulich-fleckige Verfärbungen bzw. Marmorierungen der Haut, Herzklopfen, Frieren, Frösteln.

 

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Autor

Dr. med. Robert M. Bachmann ist Facharzt für Allgemeinmedizin mit den Zusatzbezeichnungen Naturheilverfahren, Kneipp-Kur- und -Badearzt; er leitet eine Praxisklinik für Naturheilverfahren.

Zum Weiterlesen:

Bachmann RM, Schleinkofer GM. Natürlich gesund mit Kneipp. 6. Aufl. Stuttgart: Trias; 2020

Der Artikel ist erschienen in der Erfahrungsheilkunde 2/2020

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