InterviewDie integrative Medizin ist die Medizin des 21. Jahrhunderts

Prof. Jost Langhorst im Gespräch über Naturheilkunde und Komplementärmedizin, die neue Klinik für Integrative Medizin in Bamberg und Leitlinienarbeit

Jost Langhorst
Quelle: Jost Langhorst

Prof. Jost Langhorst

Sie sind Internist und Gastroenterologe und arbeiten schon sehr lange mit komplementären Therapieverfahren. Warum haben Sie so früh begonnen, sich auch mit Naturheilkunde zu beschäftigen?

Es liegt in meiner Biografie. Ich bin zwar der erste Arzt in meiner Familie, meine Großmütter haben sich aber sehr für Heilpflanzen, Tees und Heilerde interessiert. Mein Vater war sehr interessiert und hatte viel Erfahrung mit Heilfasten.

Ich selbst habe mich lange in der christlichen Jugendarbeit engagiert. Von dort hat mich mein Weg zur Medizin geführt und von Anfang an ganzheitliche Ansätze verfolgen lassen. In meiner Doktorarbeit ging es z.B. um die Medizinerausbildung vor dem Hintergrund des biopsychosozialen Paradigmas. Das war sehr prägend für mich. Als Arzt im Praktikum habe ich in der Psychosomatik gearbeitet, der Fokus lag dort aber klar auf der Psychiatrie, der somatische Aspekt war untergeordnet. Meine nächste Station war die Innere Medizin, dort erhielt ich eine sehr gute Ausbildung in einem großen akademischen Lehrkrankenhaus in Düsseldorf mit einem international erfahrenen Gastroenterologen als Chefarzt. Hier wiederum lag der Fokus klar auf der somatischen Ebene. Die Umsetzung eines wirklich integrativen Konzepts wurde möglich, als 1999 mit Prof. Gustav Dobos die Klinik für Naturheilkunde und Integrative Medizin eröffnet wurde.

Dann gingen Sie nach Essen?

Ich bin im Jahr 2001 dazugekommen und 17 Jahre geblieben. Ich habe meinen Facharzt und meine Schwerpunktbezeichnungen erworben, mich auch in der Forschung engagiert, habilitiert und dann als leitender Oberarzt gearbeitet. Die letzten Jahre habe ich außerdem die Sektion für Integrative Gastroenterologie geleitet.

Was haben Sie von dort mitgenommen?

Ja alles. Es waren großartige Jahre. Auch Gründerjahre, in denen wir das ganze Feld der stationären Integrativen Medizin weiterentwickelt haben, mit sehr inspirierenden Menschen im Team. Und da setze ich natürlich in Bamberg an, diese Erfahrungen im 21. Jahrhundert weiterzuführen, auch unter den Bedingungen, die im Gesundheitssystem für die Naturheilkunde und Integrative Medizin gerade nicht so einfach sind.

Wie kam es zur Gründung der Klinik für Naturheilkunde und Integrative Medizin in Bamberg?

Eine solche Konstellation gibt es nur etwa alle 10 Jahre – vor 20 Jahren in Essen, vor 10 Jahren in Berlin und jetzt hier in Bamberg. Das Spezifikum ist die Kombination aller Versorgungsebenen mit stationärer Versorgung, einer Ambulanz, an der Implementierung einer Tagesklinik arbeiten wir noch, und einer Professur mit eigenem Lehrstuhl. Das ist für die Weiterentwicklung der Naturheilkunde und Integrativen Medizin in Deutschland immens wichtig, weil sie nur so akademisch und wissenschaftlich an Reputation und Seriosität gewinnen kann, was im derzeitigen Klima im Gesundheitswesen besonders wichtig ist.

Wie wurde es möglich, dass eine solche Klinik gegründet wurde?

Die Gründung hatte über 4 Jahre Vorlaufzeit. Wir haben hier einen sehr innovativen Geschäftsführer, und es gab Überlegungen, wie der Standort weiterentwickelt werden kann. Er ist überzeugt, dass die Integrative Medizin die Medizin der Zukunft ist, und hat gesehen, dass das Interesse der Patienten sehr groß ist. In der Berufspolitik ist sie aber noch ein sehr zartes Pflänzchen und steht stark unter Druck. Für ihn war klar, dass hier in Bamberg die ganze Bandbreite verortet werden, d.h. die stationäre Versorgung mit einem Lehrstuhl verbunden werden soll. Das haben Geschäftsführung und Berufspolitik jetzt umgesetzt, gefördert durch das Land Bayern.

Wo liegen die Behandlungsschwerpunkte?

Wir sind eine internistisch geführte Abteilung und behandeln hier im weitesten Sinne chronische und chronifizierte Erkrankungen. Klassisch versorgen wir Patienten mit chronisch entzündlichen oder schweren funktionellen Erkrankungen. Das betrifft den großen Bereich der Schmerzerkrankungen, z.B. des rheumatoiden Formenkreises, Fibromyalgie, schwere Arthrosen oder Kopfschmerzen. Und durch meinen persönlichen Schwerpunkt v.a. auch gastroenterologische Krankheitsbilder wie chronisch entzündliche Darmerkrankungen oder schwere funktionelle Erkrankungen wie das Reizdarmsyndrom. Hinzu kommen andere internistische Erkrankungen wie schweres metabolisches Syndrom mit speziellen Sonderkonstellationen, z.B. mit einer Polyneuropathie bei Diabetes. Oder schwere Fatigue bei Patienten mit chronischen Erkrankungen oder onkologische Patienten. Zu uns kommen in der Regel Patienten, die ambulant umfassend vortherapiert sind und keine ausreichende Stabilität erreichen.

Übernehmen die gesetzlichen Krankenkassen die Kosten?

Die Kosten werden von allen Krankenkassen getragen. Bei den privaten Krankenkassen muss eine schriftliche Kostenübernahme vorliegen, bei allen anderen Kassen genügt die Einweisung mit einer Vorgeschichte, die eine stationäre Therapie rechtfertigt.

Kommen die Patienten von selbst, weil sie auch eine naturheilkundliche Behandlung möchten, oder werden sie zugewiesen?

Wir sind noch jung am Standort, haben aber bestimmte Behandlungsoptionen, für die wir schon überregional wahrgenommen werden. Die Patienten kommen eigeninitiativ zu uns, es gibt aber zunehmend auch ein Zuweisernetz an Kollegen, die schon gute Erfahrungen in der Zusammenarbeit mit uns gesammelt haben und uns Patienten aus Franken, aus Bayern und deutschlandweit zuweisen.

Wie ist die Akzeptanz des naturheilkundlich ergänzten Behandlungskonzepts bei den Patienten?

Unser Konzept ist auf 10-14 Tage ausgelegt. Eine Voraussetzung ist, dass die Patienten aktiv am Programm teilnehmen und die Dinge umzusetzen können, die wir initiieren. Wir dürfen immer wieder erleben, wie sehr sich manche Menschen darauf einlassen, in welchem Maße sie profitieren, sich weiterentwickeln und ihr Repertoire an Selbsthilfestrategien erweitern. Bei chronifizierten Erkrankungen ist es oft so, dass die Patienten sich ohnmächtig fühlen und denken, es geht nur noch darum, die Medikamente zu dosieren, sie selbst können nichts tun. Hier bietet die Naturheilkunde mit ihrem salutogenetischen Ansatz eine ressourcenorientierte Therapie, bei der Selbsthilfestrategien einen festen Platz haben. Der klassisch konventionelle pathogenetische Zugang mit der Frage, wie die Erkrankung bekämpft werden kann, wird ergänzt durch den salutogenetischen Ansatz, wie die Gesundheit unterstützt werden kann.

Das, was wir hier praktizieren, ist eine Medizin, die in vielen kleinen Schritten auf Nachhaltigkeit angelegt ist. Entscheidend ist, wie die Patienten die erlernten Strategien zu Hause weiter umsetzen. Deshalb möchten wir zusätzlich zu den schon bestehenden Versorgungsstrukturen auch eine Tagesklinik etablieren, um die Patienten nach der stationären Therapie im Alltag weiter unterstützen zu können.

Die Klinik ist mit einem Lehrstuhl verbunden, ist dieser noch in Planung?

Wir haben hier in Bamberg Anfang des Jahres den Stiftungslehrstuhl für Integrative Medizin mit dem Schwerpunkt translationale Gastroenterologie eröffnet. Der Lehrstuhl geht auf meine Zeit in Essen zurück, er ist verortet an der Universität Duisburg. Als ich das Angebot aus Bamberg erhielt, gab es Pläne für einen bayrischen Lehrstuhl, der bis heute aber nicht eingerichtet wurde. Der Vorstand und das Dekanat der Universität Duisburg-Essen waren einverstanden, den Lehrstuhl in Bamberg anzusiedeln, sodass wir jetzt hier eine Stiftungsprofessur für 5 Jahre erhalten haben. Danach wird überprüft, ob der Lehrstuhl am Klinikum Bamberg verstetigt wird.

Welche Forschungsschwerpunkte hat der Lehrstuhl?

Ein Schwerpunkt ist die translationale Gastroenterologie. Hier gibt es verschiedene Projekte in der Integrativen Medizin mit dem Forschungsschwerpunkt chronisch entzündliche Darmerkrankungen z. B. zur Darmbarriereforschung, für die wir ein konfokales Laserendoskop angeschafft haben, Projekte zur Immunologie in der Gastroenterologie, zur Zöliakie und zu verschiedenen nichtinvasiven diagnostischen Verfahren. Weiterhin gibt es Projekte zur Versorgungsforschung in der Integrativen Medizin von stationären und ambulanten Patienten.

Gemeinsam mit Prof. Thomas Keil von der Uni Würzburg führen wir ein vom Land Bayern gefördertes Projekt durch, in dem wir die Integrative Medizin in Bayern erforschen. Ein Teilprojekt ist die Beurteilung der Wirksamkeit eines Lebensstilmodifikationsprogramms bei chronisch entzündlichen Darmerkrankungen, d. h. ein multimodales Programm nichtpharmakologischer Strategien bei Morbus Crohn.

Für Patienten und Patientinnen mit Fibromyalgie bereiten wir gerade ein Projekt zur weiteren Erforschung der Hyperthermie vor.

Ein weiterer Schwerpunkt ist die Leitlinienarbeit.

Sie sind im Vorstand zweier naturheilkundlicher Gesellschaften, die inzwischen beide Mitglied der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) sind. Wie schwierig war es, dort als naturheilkundliche Gesellschaft Mitglied zu werden?

Wir sind mit den klassischen Vorurteilen konfrontiert worden, die wir längst überwunden geglaubt haben. Wir mussten durch akribische Arbeit zeigen, dass wir seriös aufgestellt sind und die Kriterien für die Aufnahme in die AWMF erfüllen. Weitere Voraussetzung war, dass die Delegiertenkonferenz mit einer Zweidrittelmehrheit zustimmen musste. Das ist uns für beide Fachgesellschaften gelungen. Die erste Gesellschaft war die Gesellschaft für Phytotherapie. Frau Prof. Karin Kraft hat die Aufnahme gemeinsam mit Prof. Fritz Kemper sehr gut vorbereitet. Auch die Mischung der Gesellschaftsmitglieder aus Pharmazeuten und Medizinern hat uns zum Ziel gebracht. Bei der Deutschen Gesellschaft für Naturheilkunde war der Weg etwas länger, die Delegiertenkonferenz hat uns zweimal scheitern lassen, im dritten Anlauf erhielten wir dann die Zustimmung. Wir haben unsere Hausaufgaben gemacht und gezeigt, dass wir die Naturheilkunde durch seriöse Arbeit repräsentieren und es absolut Sinn macht, die Naturheilkunde im Profil der AWMF zu repräsentieren, um den Bedürfnissen der Patienten in Deutschland gerecht zu werden.

Können Sie ein paar Beispiele nennen, bei welchen Indikationen die Naturheilkunde in den Leitlinien steht?

Ein wichtiger Bereich sind die chronischen Schmerzerkrankungen. Ein Flaggschiff war die Nationale Versorgungsleitlinie „Unspezifischer Kreuzschmerz“, bei der wir uns als eine Stimme für nichtinvasive und nichtpharmakologische Therapieformen eingesetzt haben. Weitere Beispiele sind die Leitlinien zur Fibromyalgie, für Colitis ulcerosa und das Reizdarmsyndrom und die Leitlinie zur unipolaren Depression. In diese Leitlinien, um nur einige zu nennen, konnten wir naturheilkundliche und komplementäre Verfahren einbringen, als Teil einer multimodalen Therapie, bei der die Naturheilkunde einen Beitrag leisten kann. Aktuell arbeiten wir daran, die S3-Querschnittsleitlinie für supportive Therapien in der Onkologie mitzugestalten. Das ist auch berufspolitisch ein sehr wichtiges Feld.

"Wir sehen die Naturheilkunde nicht als Paralleluniversum, sondern als wichtigen Teil im pluralistischen Medizinsystem in Deutschland."

Wie ist die Zusammenarbeit jetzt?

Sie ist unaufgeregt und gut. Wir werden als Fachgesellschaften unter vielen respektiert, machen unsere Arbeit und werden an vielen Stellen mitberücksichtigt und um Rat gefragt. Wir sehen die Naturheilkunde nicht als Paralleluniversum, sondern als wichtigen Teil im pluralistischen System der Medizin in Deutschland und gehören jetzt dazu. Wir können so bis hin zu Handlungsanweisungen in den modernen Leitlinien Einfluss nehmen. Und das ist tatsächlich eine wichtige Entwicklung, die wir seit 2011 durchlebt haben.

„Wir sehen die Naturheilkunde nicht als Paralleluniversum, sondern als wichtigen Teil im pluralistischen Medizinsystem in Deutschland.“

Können Sie ein paar Beispiele nennen, bei welchen Indikationen die Naturheilkunde in den Leitlinien steht?

Ein wichtiger Bereich sind die chronischen Schmerzerkrankungen. Ein Flaggschiff war die Nationale Versorgungsleitlinie „Unspezifischer Kreuzschmerz“, bei der wir uns als eine Stimme für nichtinvasive und nichtpharmakologische Therapieformen eingesetzt haben.

Weitere Beispiele sind die Leitlinien zur Fibromyalgie, für Colitis ulcerosa und das Reizdarmsyndrom und die Leitlinie zur unipolaren Depression. In diese Leitlinien, um nur einige zu nennen, konnten wir naturheilkundliche und komplementäre Verfahren einbringen, als Teil einer multimodalen Therapie, bei der die Naturheilkunde einen Beitrag leisten kann.

Aktuell arbeiten wir daran, die S3-Querschnittsleitlinie für supportive Therapien in der Onkologie mitzugestalten. Das ist auch berufspolitisch ein sehr wichtiges Feld.

Das sind bereits einige Beispiele. Sehen Sie in der Praxis, bei Kollegen, auf Kongressen, dass die Komplementärmedizin dadurch auch an Akzeptanz gewinnt?

Die Akzeptanz des Feldes ist die Aufgabe einer ganzen Lebenszeit und hängt sicher auch von den Köpfen ab, die sie vertreten. Es geht darum, konventionell ernst genommen zu werden und komplementär die Dinge voranzubringen. In Deutschland gibt es einige Zentren, die beides praktizieren und auch wahrgenommen werden. Grundsätzlich haben wir aber im deutschsprachigen Raum als akademisches Fach einen strukturellen Nachteil: Die Lehrstühle für Integrative Medizin, Naturheilkunde, Komplementärmedizin und Integrativer Medizin sind noch immer selten. Es gibt Stand heute insgesamt 8 und darunter nur einen regulären Lehrstuhl, der das Profil von Naturheilkunde, Komplementärmedizin und Integrativer Medizin repräsentiert. Das ist für die Planbarkeit und die Nachhaltigkeit der Forschung ein wichtiger Punkt, weil eine Befristung wie hier in Bamberg auf 5 Jahre beides nicht befördert.

Nichtsdestotrotz bin ich sehr glücklich, dass wir den Stiftungslehrstuhl bekommen haben. In den konventionellen Feldern erfolgt die Berufung auf einen Lehrstuhl auf Lebenszeit. Damit besteht eine viel bessere Planungssicherheit. Aber dennoch ist die Entwicklung als großer Erfolg zu werten, der aktuelle Status wäre vor 20 Jahren nicht denkbar gewesen. Es spielen aber auch andere Faktoren eine Rolle: die Berufspolitik, die Kostenträger, die Ausbildung der kommenden Generation. An Herausforderungen für Integrative Medizin und Naturheilkunde mangelt es also nicht.

Die Homöopathie hat aktuell einen sehr schweren Stand, sie wird seit einigen Jahren immer drastischer angegriffen. Sehen Sie für die Naturheilkunde und Komplementärmedizin ähnliche Tendenzen, dass es in so eine Richtung laufen könnte?

Ja. Die Diskussion wird leider an einigen Stellen sehr polemisch geführt. Es macht den Eindruck, dass es in einzelnen Diskussionen eher um das rigorose Vertreten von Meinungen als den Austausch von Argumenten geht.

„Unser Ziel ist, das Feld der Naturheilkunde und Komplementärmedizin so seriös und wissenschaftlich aufzustellen, dass wir fundierte Argumente haben.“

Aus dem konventionellen Lager wird der Naturheilkunde und Komplementärmedizin noch heute häufig pauschal vorgeworfen, dass nichts belegt ist und man dem Patienten doch wohl vor allem schaden kann. In den 1990er-Jahren ist der Bereich von Naturheilkunde und komplementären Verfahren konsequent aus der Erstattungsfähigkeit der Krankenkassen in den 2. Gesundheitsmarkt verlagert worden. In diesem 2. Gesundheitsmarkt stößt man allerdings häufig auf die bequeme Haltung „Ich sehe, dass es wirkt, wir brauchen keine Forschung.“, was den Vorurteilen weiter Vorschub leistet.

Unser Ziel ist, das Feld der Naturheilkunde und Komplementärmedizin so seriös und wissenschaftlich aufzustellen, dass wir mit fundierten Argumenten arbeiten können. Es geht nicht darum, Vorurteile und Klischees zu bedienen oder zu beerdigen, sondern die Naturheilkunde als akademisches und wissenschaftlich basiertes Fach zu etablieren.

Machen wir es konkret: Welche Vorteile haben Naturheilkunde und Komplementärmedizin beispielsweise in der Geriatrie?

Die Naturheilkunde und Komplementärmedizin ist ein Querschnittsfach. Mit den verschiedenen Säulen der Therapie haben wir auch in der Geriatrie ein Füllhorn an Möglichkeiten, von denen die Patienten profitieren können. In der Geriatrie haben wir es als Ärzte häufig mit multimorbiden Patienten zu tun, das heißt, die Patienten leiden an verschiedenen in der Regel chronischen Erkrankungen. Schaut man dann in die Vielzahl der vorliegenden Leitlinien, öffnet sich ein mitunter unüberschaubares Arsenal an Informationen, die sich in einigen Fällen sogar widersprechen können. Gerade bei der Pharmakotherapie ist häufig weniger mehr. Die Naturheilkunde bietet hier hervorragende begleitende Möglichkeiten: die Phytotherapie, Reiz-Reaktions-Therapien in Form der Hydrotherapie, Ernährung und Bewegung, um nur einige zu nennen.

Haben Sie ein Beispiel, was könnte für einen geriatrischen Patienten mit Schlafstörungen infrage kommen?

Zunächst gilt es, in Anamnese und Untersuchung das Bild der Schlafstörung und die möglichen Ursachen genau zu klären. Weiß man dann, woran man ist, hat die Naturheilkunde viel zu bieten. Angefangen beim Lebensstil mit Berücksichtigung des zirkadianen Rhythmus mit Anspannung und Entspannung über Stressmanagement, Entspannungsverfahren vor dem Schlafengehen, Reiz-Reaktions-Therapien bis hin zur Phytotherapie.

Hier verfügt die Naturheilkunde über viele Selbsthilfestrategien, die man bei milden bis mittelgradigen Schlafstörungen einsetzen kann: z.B. in Form von Wickeln und Auflagen wie die Lavendel-Herz-Auflage oder den phytotherapeutischen Klassiker Baldrian.

Was würden Sie jungen Kollegen mit auf den Weg geben, warum es sich lohnt, Naturheilverfahren und Komplementärmedizin in die Praxis zu integrieren?

Die Integrative Medizin und Naturheilkunde ist die Medizin des 21. Jahrhunderts. Weil wir zunehmend mit der Situation konfrontiert sind, dass nicht mehr ausschließlich die Ausheilung von akuten Erkrankungen im Gesundheitssystem dominiert. Das 21. Jahrhundert ist in der westlichen Welt auch trotz der Corona-Pandemie vor allem das Jahrhundert der chronischen Erkrankungen.

Ziel der Therapie chronischer Erkrankungen ist in der Regel, dass die Autonomie der Betroffenen erhalten bleibt, die Lebensqualität so hoch wie möglich ist und die Symptomkontrolle optimal gelingt. Dabei bildet die Naturheilkunde mit ihrem salutogenetischen Ansatz einen wichtigen Mehrwert, der in der pharmakodominierten Akutmedizin in den Hintergrund tritt. Deshalb finden wir in der Naturheilkunde und Integrativen Medizin oft Kollegen, die zunächst einen ganz klassischen konventionellen Weg gegangen sind, dann zu einem Zeitpunkt in der Praxis angekommen sind und feststellen mussten: Die konventionellen Möglichkeiten kommen an ihre Grenzen. Erweitert man dann sein Spektrum um Naturheilkunde und Komplementärmedizin, kann man auf manche Fragen neue oder andere Antworten generieren und im besten Fall eine ganz neue Haltung einnehmen.

Die Naturheilkunde ist aber auch ein gutes Element, glücklich im Beruf zu werden und zu bleiben. In einer Umfrage unter Allgemeinmedizinern wurden vor einiger Zeit die Berufszufriedenheit und das Ausmaß an Glück abgefragt. Bei Kollegen, die zusätzliche naturheilkundliche Qualifikationen hatten, lag beides über dem Durchschnittswert der allein konventionell arbeitenden Kollegen. Die Tendenz war eindeutig.

Das Interview führte Anke Niklas.

Das Interview ist erschienen in der Zeitschrift für Komplementärmedizin 5/2020

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Prof. Dr. med. Jost Langhorst ist Internist mit Schwerpunkt Gastroenterologie und den Zusatzbezeichnungen Psychotherapie, Naturheilverfahren, Physikalische Therapie und Balneotherapie. Nach langjähriger Tätigkeit an der Klinik für Naturheilkunde und Integrative Medizin in Essen leitet er seit 2019 die neu gegründete Klinik für Integrative Medizin und Naturheilkunde in Bamberg und den Stiftungslehrstuhl für Integrative Medizin.

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