GesellschaftPolarisierungsthese widerlegt: Gesellschaftliche Einheit trotz politischer Differenzen

Pauschale Annahmen über politische Einstellungen basierend auf beruflicher Zugehörigkeit sind laut Wissenschaft unzureichend.

EU-Flagge weht vor blauem Himmel
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Tendenziell haben liberale Positionen seit Ende der 1990er-Jahre schichtenübergreifend an Bedeutung gewonnen.

In der aktuellen politischen Debatte um Migration und europäische Integration wird oft ein Bild von tiefen Gräben zwischen verschiedenen sozialen Klassen gezeichnet. Die Vorstellung, dass Gutverdiener*innen in städtischen Zentren pro EU und pro Einwanderung sind, während das Proletariat auf dem Land europaskeptisch und migrationsfeindlich eingestellt sei, prägt Diskussionen in der Öffentlichkeit.

Eine neue soziologische Studie der Freien Universität Berlin rückt dieses Bild zurecht und widerlegt die Polarisierungsthese.

Beruf und Meinung: Eine differenzierte Betrachtung

Die Untersuchung, veröffentlicht im Fachmagazin "European Societies", analysierte, ob und inwieweit die Meinungen zur Einwanderung und zur Europäischen Union tatsächlich zwischen Menschen mit hochqualifizierten und geringqualifizierten Berufen variieren. Die gängige Annahme, dass bestimmte Berufsgruppen einheitliche Meinungen vertreten und sich die Fronten zwischen "Eliten" und dem "kleinen Mann auf der Straße" deutlich abzeichnen, wurde dabei überprüft.

Ergebnisse der Studie

Die Studie bestätigt, dass es tatsächlich Unterschiede in den Meinungen gibt: Gering qualifizierte Arbeiter*innen stehen im Durchschnitt kritischer zu Migration und der EU als ihre hochqualifizierten Pendants. Allerdings betont die Studie, dass innerhalb der Berufsklassen selbst erhebliche Meinungsunterschiede existieren. Beispielsweise zeigen sich signifikante Unterschiede in den Einstellungen zur Wirkung von Migration auf die Wirtschaft zwischen geringqualifizierten Arbeiter*innen. Dies verdeutlicht, dass die Vorstellung einer homogenen Meinung innerhalb der unteren Berufsklassen nicht zutrifft.

Arbeiter*innen stehen der Migration und der EU im Schnitt kritischer gegenüber als hochqualifizierte Menschen

14% der gering qualifizierten Arbeiter*innen glauben, dass Zugewanderte der Wirtschaft schaden. Bei den besonders hoch Qualifizierten sind es nur 4%. Allerdings betrachten 36% der Geringverdiener*innen, die Zuwanderung als gut für die Wirtschaft. Und die übrige Hälfte nimmt diverse Mittelpositionen ein.

Strukturelle Polarisierung als Legende

Die Soziolog*innen kommen zu dem Schluss, dass die strukturelle Polarisierung zwischen verschiedenen Berufsklassen eine Legende ist. Eine homogene Meinungsbildung innerhalb der sogenannten "einfachen Menschen" sei nicht gegeben. Die Studienleiterin Prof. Céline Teney hebt hervor: "Unsere gesellschaftspolitischen Einstellungen lassen sich nur bedingt aus unserer Zugehörigkeit zu einer bestimmten Berufsklasse ablesen." Dies gelte insbesondere für gering qualifizierte Arbeiter*innen, bei denen eine höhere Meinungsvielfalt festgestellt wurde als bei hochqualifizierten Berufen.

Herausforderungen und Perspektiven

Die Studie warnt davor, sich auf diesen Ergebnissen auszuruhen, und weist auf die potenzielle Gefahr hin, dass das Narrativ von den "realitätsfernen Eliten" auch in Deutschland an Einfluss gewinnen könnte. Dennoch geben die Forscher*innen auch Grund zur Hoffnung, da liberale Positionen in den vergangenen Jahrzehnten schichtenübergreifend an Bedeutung gewonnen haben.

Insgesamt betont die Studie die Vielschichtigkeit der Meinungsbildung in der Gesellschaft und unterstreicht, dass pauschale Annahmen über politische Einstellungen basierend auf beruflicher Zugehörigkeit unzureichend sind. Damit leistet die Forschung einen Beitrag zur differenzierten Betrachtung gesellschaftlicher Meinungsbildung und zur Überwindung von stereotypen Vorstellungen.

Quelle: Freie Universität Berlin