SuizidpräventionSuizidassistenz: Prävention muss an erster Stelle stehen

Ein Suizidwunsch ist in der Mehrheit der Fälle Ausdruck eines behandelbaren seelischen Leidens. Trotzdem nahmen sich im Jahr 2020 in Deutschland 9206 Menschen das Leben.

Burnout, Depression, Suizid, Selbstmord, Verzweiflung
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Etwa 50-90 Prozent aller Suizide stehen im Zusammenhang mit einer psychischen Erkrankung.

Das Bundesverfassungsgericht hat 2020 das Verbot geschäftsmäßiger Suizidhilfe für verfassungswidrig erklärt. Jetzt muss die Politik gesetzliche Rahmenbedingungen schaffen, die die Suizidprävention stärken und diejenigen Menschen effektiv schützen, deren Suizidwunsch nicht auf einer freien Entscheidung basiert. Eine aktuelle Umfrage unter den Mitgliedern DGPPN gibt wichtige Hinweise zur Ausgestaltung eines solchen legislativen Schutzkonzepts. Erste Ergebnisse wurden auf dem Kongress der DGPPN im November 2021 vorgestellt.

Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat 2020 festgestellt, dass das Recht auf einen freiverantwortlichen Suizid auch die Freiheit umfasst, hierfür von Dritten angebotene Hilfe anzunehmen. Gleichzeitig sieht das höchste Gericht den Staat in der Pflicht, dafür Sorge zu tragen, dass Suizidassistenz nur dann angeboten werden darf, wenn die Entscheidung tatsächlich „selbstbestimmt, dauerhaft und mit innerer Festigkeit“ getroffen wurde. Das Urteil wirft insbesondere auch für die Psychiatrie komplexe medizinische und medizinethische Fragen auf, die der neue Bundestag bei der Ausgestaltung eines gesetzlichen Schutzkonzepts berücksichtigen muss.

9206 Suizide im Jahr 2020 in Deutschland

Im Jahr 2020 haben sich 9206 Menschen in Deutschland das Leben genommen, etwa zehnmal so viele Suizidversuche werden geschätzt. 50–90 Prozent aller Suizide stehen im Zusammenhang mit einer psychischen Erkrankung.

Psychische Krisen oder Erkrankungen – beispielsweise eine Depression oder eine psychotische Störung – können die Selbstbestimmungsfähigkeit, die Dauerhaftigkeit und innere Festigkeit und damit auch die Freiverantwortlichkeit eines Suizidwunsches entscheidend beeinträchtigen. In diesen Fällen müssen Suizidwillige vor dem irreversiblen Schritt einer Selbsttötung geschützt werden. Andererseits kann auch der Suizidentschluss eines psychisch kranken Menschen freiverantwortlich sein.

Vor diesem komplexen Hintergrund sieht es die DGPPN als ihre Aufgabe an, die Politik bei der Ausgestaltung eines Schutzkonzepts zu beraten und dabei die Expertise von Fachärzten für Psychiatrie und Psychotherapie in der Suizidprävention und der Beurteilung der Freiverantwortlichkeit einzubringen. Andererseits aber auch sich für den Ausbau von Suizidprävention und passender Versorgungsstrukturen einzusetzen. Denn:

Ein Suizidwunsch ist in der Mehrheit der Fälle Ausdruck eines behandelbaren seelischen Leidens.

Um eine möglichst breite Basis für die Positionierung der Fachgesellschaft zu schaffen, hat die DGPPN im Sommer 2021 eine Umfrage unter ihren Mitgliedern durchgeführt:

  • Von den mehr als 2000 Teilnehmern hält der deutlich überwiegende Teil eine gesetzliche Neuregelung der Suizidassistenz für notwendig.
  • Der Mehrheit ist es wichtig, dass Suizidwillige durch Ärzte beraten werden und die Freiverantwortlichkeit des Entschlusses obligat begutachtet wird.
  • Beratung, Begutachtung und Suizidassistenz sollten dabei von unterschiedlichen Personen oder Institutionen durchgeführt werden.
  • Wenn keine terminale Erkrankung vorliegt, sollte die Zulässigkeit strenger geprüft und eine Wartefrist von mehreren Monaten vorgesehen werden.
  • Ferner befürwortet die Mehrheit ein Verbot kommerzieller Suizidassistenz und eine Stärkung der Suizidprävention.

Aus diesen und weiteren Erkenntnissen wird die DGPPN Anfang 2022 eine konsolidierte Positionierung inklusive konkreter Forderungen ableiten und in den parlamentarischen Prozess einbringen.

Statements

Menschen mit Sterbewünschen ergebnisoffen helfen

„Ärztliche Beihilfe zur Selbsttötung bietet verschiedene ethische Herausforderungen. Neben der Förderung und Achtung der Selbstbestimmung sollten vor allem auch die Fürsorgeverpflichtungen berücksichtigt werden. Im Mittelpunkt der ärztlichen Bemühungen sollte deshalb stehen, wie Menschen mit Sterbewünschen angemessen geholfen werden kann. Diese Hilfe sollte sich dabei nicht auf die Vermeidung der Selbsttötung beschränken, sondern auch die Möglichkeit des assistierten Suizids umfassen. Nur mit einem ergebnisoffenen Angebot wird man die zum Tode verzweifelten bzw. zur Selbsttötung entschlossenen Menschen für eine umfassende Hilfe gewinnen können. Wenn entsprechend geschulte Ärztinnen und Ärzte diese umfassende Hilfe anbieten, kann die geschäftsmäßige Suizidassistenz durch Sterbehilfe-Vereine weitgehend vermieden werden.“

Prof. Dr. Georg Marckmann, MPH
Leiter des Instituts für Ethik, Geschichte und Theorie der Medizin an der Ludwig-Maximilians-Universität München

Differenzierte Beurteilung der Selbstbestimmungsfähigkeit

„Psychische Erkrankungen können zu Suiziden führen und bestimmte Symptome können die Selbstbestimmungsfähigkeit und damit auch die Freiverantwortlichkeit im Sinne des BVerfG-Urteils deutlich beeinträchtigen. Fachärzte für Psychiatrie und Psychotherapie sind Spezialisten in der Diagnostik und Behandlung von psychischen Erkrankungen und in der differenzierten Beurteilung der Selbstbestimmungsfähigkeit besonders geschult.“

Prof. Dr. Dr. Katharina Domschke
DGPPN-Vorstandsmitglied und Leiterin der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie am Universitätsklinikum Freiburg

Umgehendes Reagieren und Aufzeigen von Hilfsangeboten

„Risikofaktoren für Suizide sind gut erforscht, daher sind Strukturen zu schaffen, die helfen, Selbsttötung weitestgehend zu vermeiden. Umgehendes Reagieren und das Aufzeigen von Hilfsangeboten sind von immenser Bedeutung, da bei vier von fünf Suiziden zwischen Entschluss und Umsetzung der Tat nur wenige Stunden vergehen.“

PD Dr. Ute Lewitzka
Leiterin des DGPPN-Referats Suizidologie und Vorsitzende der Gesellschaft für Suizidprävention (DGS)

Sterbewünsche thematisieren und Alternativen aufzeigen

„Eine gesetzliche Neuregelung muss in erster Linie denjenigen Hilfe und Schutz bieten, die sich aufgrund einer psychischen Erkrankung oder Krise, sozialen Drucks oder erlebter Ausweglosigkeit das Leben nehmen wollen und dabei nicht frei entscheiden können. Dabei sollte auch darüber gesprochen werden, wie wir unsere Gesellschaft und das Versorgungssystem so gestalten können, dass diese Menschen gar nicht erst suizidal werden. Als Stimme der Psychiater in Deutschland wird die DGPPN den Gesetzgebungsprozess weiterhin eng begleiten. Ärztliche Aufgaben beim Umgang mit suizidalen Menschen sind die Thematisierung von Sterbewünschen und von Alternativen dazu, deren ursächlich-diagnostische Einordnung, die Linderung von Leid durch empathische Zuwendung und wo immer möglich auch durch spezifische therapeutische Maßnahmen, sei es z. B. die Gabe von Schmerzmitteln bei einem Tumorpatienten oder die psychotherapeutische und pharmakologische Behandlung einer Depression. Für dieses ärztliche Ethos steht die DGPPN.“

Prof. Dr. Thomas Pollmächer
DGPPN-Präsident und Direktor des Zentrums für psychische Gesundheit sowie Chefarzt der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie I in Ingolstadt

Quelle: Pressemitteilung/Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde e.V. (DGPPN)