Psychischer Stress„Ich habe Durchfall und keine Depression”

Psychischer Stress wirkt sich direkt auf den Darm aus und kann neben anderen Entstehungsfaktoren wesentlich am Reizdarmsyndrom beteiligt sein. Unter subjektiv erlebtem sozialen Druck und fehlenden eigenen Grenzen können Symptome und der Gang zur Toilette zu Ersatzschutzräumen werden. Neu gefasste Glaubenssätze sowie Methoden der Selbststeuerung, Erdung und Imagination können zur Entspannung führen.

Frau, die auf einer Toilette sitzt und Bauchweh hat.
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Psychotherapeutische Erklärungen und Therapieansätze des Reizdarmsyndroms im Spannungsfeld zwischen somatisierender Selbstwahrnehmung und blockierten Emotionen.

von Anja Pasch

Von der Gastroenterologie bis zur Orthopädie: Die moderne Medizin ordnet dem Menschen Behandlungsgebiete zu. Doch die einseitige Fokussierung auf ein (Organ-)System lässt außer Acht, dass dieses mit allen anderen Systemen ein Ganzes bildet und erst in diesem Zusammenhang zu verstehen ist. So ist auch die Psyche an den meisten Erkrankungen ursächlich beteiligt, wird aber nur selten in die konventionelle Therapie einbezogen. Einige Ärzte zweifeln immer noch daran, dass Gefühle klinisch von Bedeutung sind [1].

Selten Gegenstand der Psychotherapie: „Bauchgefühle“

Psychotherapeuten berücksichtigen wiederum nur selten Magen-Darm-Störungen. Obgleich viele ihrer Patienten enteral resorbierbare Antidepressiva einnehmen, schlägt sich die Verbindung zwischen Verdauungssystem und Psyche bislang in der Ausbildung und Praxis wenig nieder [1]. Gleichwohl kann die erfolgreiche Behandlung des Reizdarmsyndroms (RDS) nicht nur auf psychotherapeutischer oder intestinaler Ebene erfolgen. Vielmehr bietet sich hier ein interdisziplinärer Ansatz an, zumal es sich um eine der häufigsten somatoformen Störungen handelt: Die Prävalenz des RDS liegt bei etwa 15 %, wobei Frauen doppelt so oft betroffen sind wie Männer. Alter und ethnische Zugehörigkeit spielen hierbei keine erkennbare Rolle [2].

Zur typischen Symptomkonstellation zählen diffuse funktionelle Beschwerden wie Bauchschmerzen, Blähungen und Veränderungen der Defäkation, während strukturelle Läsionen oder biochemische Abweichungen ausscheiden. Grob lassen sich je nach vorherrschenden Symptomen der Schmerztyp, der Gas-Blähtyp, der Obstipations- und der Diarrhötyp unterscheiden.

Auf psychischen Druck folgt abdominaler Druck

Eine meiner RDS-Patientinnen, die vom Laufsport begeistert ist, berichtet von ihren Symptomen: „Jedes Mal, wenn ich an der Startlinie eines Laufs stehe und mich verpflichtet fühle, meine persönliche Bestzeit zu laufen, fängt mein Bauch an zu arbeiten. Ich weiß dann genau, dass ich spätestens nach zwei Kilometern ein Dixi-Klo aufsuchen muss. Das stresst mich sehr." Die Zwänge des Lebens rufen Angst hervor. Eine gewisse Verpflichtung sich selbst oder anderen gegenüber zwingt diese Patientin „in die Knie". Sie berichtet mir, dass sie bei jedem Lauf unter Durchfall leide. Dies gelte auch für jede andere Situation, in der sie sich einer Verpflichtung oder Stress ausgesetzt fühle. Sie fühle sich durch das Wechselspiel von Durchfällen, Verstopfung oder Bauchkrämpfen nicht mehr in der Lage, ein selbstbestimmtes Leben zu führen. „Wenn ich vor Verpflichtungen stehe oder Stress ausgesetzt bin und dann nicht weiß, wo die Toiletten sind und wann die nächste Pause ist, merke ich einen gewaltigen Druck im Bauch. Das hat mit Lebensqualität absolut nichts mehr zu tun."

Manche anderen RDS-Patienten möchten nicht wahrhaben, dass sie zusätzlich zu ihrem gereizten Darm ihrer Psyche Aufmerksamkeit schenken sollten: „Ich habe Durchfall und keine Depression!" Für diese Patienten steht die körperliche Reaktion im Vordergrund. Es ist aus ihrer Sicht schließlich der Durchfall, der sie zum „Weglaufen" zwingt und nicht ungelöste innere Konflikte, sozialer Druck oder Terminstress.

Erwartung und Enge: Gefangen in sozialen Beziehungen

Lassen sich RDS-Patienten auf eine Psychotherapie ein, stellen sie oft fest, dass sie sich in der Beziehung zu anderen gefangen fühlen. Je enger diese Beziehung, desto schlimmer die Symptomatik, die ihrerseits den Druck verstärkt. „Ich traue mich gar nicht, meinem Partner zu sagen, dass ich schon wieder zur Toilette muss", sagt eine Betroffene.

Manchmal artet das RDS zu einer sozialen Phobie aus. So wie andere ständig kontrollieren, ob Herd und Kaffeemaschine ausgeschaltet sind, fragen sich diese Patienten unentwegt, ob sie nicht noch einmal auf die Toilette gehen sollten.

Für viele Betroffene ist Durchfall eine Lösung und Flucht aus einer unangenehmen Situation. Dieses Muster hat sich dann häufig dergestalt verfestigt, dass sie jedes Mal Druck im Bauch verspüren, sobald sie diese Umstände erneut durchleben. Sehr oft handelt es sich um Situationen, bei denen das Umfeld nach dem subjektiven Empfinden Forderungen oder Erwartungen stellt. Betroffene fühlen sich nicht wohl, sobald sie verfügbar sein oder funktionieren müssen. Dies ist beispielsweise am Arbeitsplatz oder in der Interaktion mit Arbeitskollegen, Bekannten oder Verwandten der Fall.

Kurz gefasst

  1. Psychischer Stress wirkt sich direkt auf den Darm aus und kann neben anderen Entstehungsfaktoren wesentlich am RDS beteiligt sein.

  2. Unter subjektiv erlebtem sozialen Druck und dem Fehlen eigener Grenzen können Symptome und der Gang zur Toilette zu Ersatzschutzräumen werden.

  3. Neu gefasste Glaubenssätze sowie Methoden der Selbststeuerung, Erdung und Imagination können – auch im Bauch – zur Entspannung führen.

Blockierte emotionale Reaktionen erhöhen den Druck

Wie gehen wir mit unangenehmen Gefühlen um? Wir können sie eine Weile betrachten, analysieren und überlegen, warum und woher sie kommen. Danach können wir sie „verdauen" oder in eine soziale Reaktion umsetzen. Damit machen wir Gesprächspartnern Wünsche und Grenzen deutlich und gestalten die Umstände für uns angenehmer. Wir lassen möglicherweise auch Druck ab, erheben die Stimme und vertreten deutlich unser Anliegen. All dies fördert eine Verbesserung der auslösenden Situation. RDS-Patienten sind dazu häufig nicht in der Lage. Der einzige Ausweg aus der Situation und der einzig mögliche Umgang mit den unangenehmen Gefühlen ist dann der Gang zur Toilette.

Nicht nur negative, sondern auch positive Gefühle werden „in die Toilette gespült“. Eine Patientin berichtet davon, dass sie an keinem Durchfall leide, wenn sie mit jemandem Streit habe. Durch diese Interaktion könne sie viel nachdenken und sei damit beschäftigt, sich innerlich zu schützen. Für sie ist es schwer, wenn sie gefallen möchte oder in einer guten Beziehung ist.

Hintergrund Pflichtgefühl und soziale Erwartung als vorbewusste Einflüsse

Pflicht und soziale Erwartungen werden tiefenpsychologisch der analen Phase (typischerweise etwa zweites bis viertes Lebensjahr) zugeordnet. In dieser Zeit entsteht das Selbstgefühl des Menschen, also die emotionale Identität. Diese ist noch vorbewusst! Das Selbstgefühl ist die Grundlage des Selbstbewusstseins, welches sich erst in der folgenden Phase entwickelt. Aus diesem Grund ist der Zusammenhang zwischen emotionaler Ursache und körperlichem Symptom rational nicht erreichbar. Es muss also mit psychotherapeutischen Methoden die emotionale Sprache entziffert werden, um anschließend ein bewusstes psychosomatisches Verständnis herzustellen. 

Das hochkomplexe System RDS hat somit viel mit dem Wahrnehmen und Erkennen der eigenen Gefühle zu tun. Wenn die Betroffenen in einer Therapie ihre verborgenen Empfindungen und Wünsche erkennen und ihre Vorstellung von der wichtigsten Bezugsperson analysieren, erfahren sie oft Besserung. Dies nimmt jedoch viel Zeit in Anspruch. Denn der gereizte Darm ist häufig ein sogenanntes Affektäquivalent: Nur noch das körperliche Symptom, aber nicht das auslösende konflikthafte Gefühl sind den Betroffenen in diesem Fall bewusst. Erleben und Äußern sind damit in den Körper verlagert und zeigen sich in Äquivalenten wie Völlegefühl oder Durchfall. Die Angst, Anspannung oder Hilflosigkeit dahinter bleiben verborgen.

Vergangenes wird auf Gegenwärtiges projiziert

Sofern es keine reale aktuelle Bedrohung gibt - dies ist im Alltag meist der Fall - liegt die Ursache für massive Erregung, Ärger, Anspannung oder Aggression in der Vergangenheit. Heftige, scheinbar unkontrollierbare Emotionen zeigen in der Regel an, dass etwas in der persönlichen Geschichte nicht adäquat verarbeitet werden konnte.

Erinnert die aktuelle Situation an diese unverarbeiteten Probleme, reagiert der Patient emotional nicht nur auf das aktuelle Geschehen, sondern auch auf eine frühere Erfahrung. Da jedoch das ungesteuerte Ausagieren weitere Konflikte statt Lösungen verschafft, sollte er sich in der Gegenwart verankern.

Wichtige Ziele sind daher, wieder bewusst zu fühlen, Gefühle zu steuern und eigene Grenzen zu wahren. Denn viele Betroffene liefern sich in einer engen Beziehung vollkommen aus, ohne Grenzen zu setzen und Freiraum zu beanspruchen. Sie tun dies so lange, bis die Toilette zum Freiraum wird. Die Folge ist, dass Spannungen in einer engen Beziehung direkt auf den Darm übertragen werden.

Wenn die Gründe für die Anspannung erkannt werden, geht es vielen Betroffenen besser. Nicht selten leiden sie auch unter einer Angststörung oder Depression. In einer Psychotherapie können sie die Zusammenhänge zwischen Darm und Emotion verstehen lernen. Dies geschieht über den achtsamen Umgang mit dem eigenen Körper in den auslösenden Situationen, wie im beschriebenen Fall ein Laufwettkampf. Was passiert mit mir gerade? Ich nehme es wahr. Ich akzeptiere es. Ich kenne diese Angst und lasse sie zu.

Bewährte Methoden: neue Glaubenssätze, Selbststeuerung, Imagination

Ich habe in meiner Praxis gute Erfahrungen mit dem Austauschen von Glaubensätzen gemacht, zum Beispiel:

  • Mein Darm lässt mich wieder im Stich / ich darf meinen Darm freundschaftlich behandeln.

  • Ich muss stark und brillant sein / ich kann vertrauen und kooperieren.

  • Ich muss gefallen / ich darf Grenzen setzen.

Auch durch die Arbeit mit Zielen und die Steuerung der Emotionen sowie Wahrnehmung stellt sich eine große Erleichterung ein. Das jeweilige Ziel soll von Klienten möglichst konkret, positiv und realisierbar definiert werden. Anschließend baue ich es in einen imaginären Lösungsfilm ein und lasse den Klienten wahrnehmen, wie es sich anfühlt, wenn das Ziel erreicht ist. Einfache Entspannungstechniken wie bewusstes Atmen (zum Beispiel innehalten und fünfmal langsam ein- und ausatmen) liefern eine hervorragende Grundlage für alle weiteren Schritte.

In diesem Rahmen haben sich Imaginationsübungen als große Hilfe in Krisensituationen erwiesen. Sie helfen Betroffenen, ihre Emotionen und ihr Denken wirksamer zu steuern und mit den Symptomen besser zu leben. Der Therapeut führt sie imaginär an einen geschützten Ort in ihrem Inneren, an dem sie sich absolut sicher und wohl fühlen können. Sie dürfen frei wählen, ob es sich dabei etwa um ein schönes Zimmer oder Haus, einen idyllischen Garten, einen Platz am Ufer eines Sees oder Meeres oder auf einem Baum handelt - und ob dieser Ort aus der Erinnerung oder der Fantasie stammt. Bislang ist möglicherweise die Toilette ungewollt zu diesem Ort geworden. Nun fordert der Therapeut den Patienten auf, in sich hineinzuspüren: Fühlt er sich am sicheren Ort wirklich bequem, wohl, sicher und geborgen? Er soll ganz genau wahrnehmen, wie es sich anfühlt, an diesem sicheren inneren Ort zu sein. Nun soll der Patient mit sich selbst ein Zeichen verabreden, mit dessen Hilfe er bei Bedarf jederzeit an diesen sicheren inneren Ort zurückkehren kann. Zum Beispiel kann er die Hand zur Faust schließen oder mit der Zunge gegen den Gaumen drücken. Dies kann zum Beispiel während eines wichtigen Gesprächs hilfreich sein, wenn sich Druck aufbaut.

Falls belastende oder gefährliche Erinnerungen dennoch überhandnehmen, hat sich die Zugübung als hilfreich erwiesen. Die Betroffenen erlernen dazu, sich vor ihrem inneren Auge einen Zug am Bahnhof vorzustellen. Dieser gestaltet sich ganz nach ihren Vorstellungen. Sie können nun Menschen, die ihnen „auf den Magen schlagen", einsteigen lassen und auf die Reise schicken. Sie bestimmen das Ziel. Die Türen schließen sich, der Schaffner pfeift, der Zug fährt ab. Die Schlusslichter entfernen sich und verschwinden schließlich.

Dasein statt Flucht: Verortung im Hier und Jetzt

Häufig hilft bereits die Anleitung, sich im Hier und Jetzt zu verankern. Denn dort werden der Wille, die Gedanken und die Emotionen gesteuert. Der Betroffene sieht sich nicht genötigt, die Situation zu verlassen, wenn er sie nicht als bedrohlich wahrnimmt. Dazu stellt der Therapeut folgende Fragen:

  • Was sehen Sie im Hier und Jetzt?

  • Was riechen Sie im Hier und Jetzt?

  • Was schmecken Sie im Hier und Jetzt?

  • Was hören Sie im Hier und Jetzt?

  • Was fühlen Sie auf der Haut im Hier und Jetzt?

Der Patient führt diese Übung daraufhin immer wieder selbst durch, zum Beispiel im Freien oder bei offenem Fenster. Gut trainiert, verschafft sie auch in unangenehmen Situationen schnelle Entlastung.

In Krisensituationen hilft auch Pendeln sehr gut. Dabei richtet der Patient seine Aufmerksamkeit abwechselnd auf die belastende Situation und einen ausgesuchten Gegenstand im Raum, den er in allen seinen Facetten erfasst. Dies bietet eine Möglichkeit, sich in emotional schwierigen oder belastenden Situationen zu steuern und in eine ruhigere Gemütslage zu gelangen. Damit treten andere Emotionen in den Hintergrund. Die Aufmerksamkeit ruht im Hier und Jetzt.

Durch klare Grenzen Schutzräume schaffen

Psychische Belastungen sind in sehr unterschiedlichem Ausmaß am Reizdarmsyndrom beteiligt: So können ebenso mikrobiologische, neurologische und andere somatische Einflüsse allein oder in Kombination ursächlich sein. Auch ist die Ätiologie bis heute nur zu Teilen geklärt. Zeigt sich jedoch wie beschrieben eine psychosomatische Komponente, hat dies häufig mit unzureichend gesteckten beziehungsweise überschrittenen eigenen Grenzen zu tun. Dies wirkt sich auch deutlich auf Selbstwertgefühl und erlebte Selbstwirksamkeit aus. Ebenso können Komponenten wie Bindung, Ängste, Geborgenheit, erlernte Beziehung zum Körper oder Perfektionismus eine Rolle spielen.

Insbesondere Schutzräume sind für das innere Gleichgewicht notwendig. Mithilfe verlässlicher Grenzen können Patienten darin herausfinden, was ihnen guttut, was sie brauchen, fühlen und denken. Somit schützen sie ihren Raum und zeigen nach außen, wie nahe sie jemanden heranlassen werden. „Nein" ist in diesem Fall ein wichtiges Abgrenzungswort, ebenso wie „Stopp", wenn etwas zu nahe kommt (zum Beispiel Menschen, eigene Gedanken). Dies bedeutet auch, eine ausgeprägte Selbstfürsorge zu entwickeln und vom Reagierenden zum Gestalter zu werden.

Anja Pasch
M.A. in Sozialwissenschaft, Heilpraktikerin in eigener Praxis, L&B-geprüfte Therapeutin-Schmerztherapie nach Liebscher & Bracht, ausgebildet in Coaching, Psychotherapie, psychologischer Beratung, Kinder-, Jugend, Familienund Gruppentherapie, Führungskompetenz, Mitarbeitercoaching und Kundenbetreuung sowie Dozentin in der Erwachsenenbildung in den Bereichen Psychische Gesundheit, Psychosomatische Medizin und Persönlichkeitscoaching.

[1] Campbell-McBride N.. GAPS – Gut and Psychology Syndrome: Wie Darm und Psyche sich beeinflussen.. 2015. Narayana; Kandern:

[2] Martin A.. Evidenzbasierte Leitlinie zur Psychotherapie somatoformer Störungen und assoziierter Syndrome.. 2013. Hogrefe; Göttingen:

[3] Herold G. et al Innere Medizin.. 2017. Herold; Köln: