SportsuchtSport und Leistung: Gibt es eine Sportsucht?

Nicht der Trainingsumfang ist ausschlaggebend. Wenn Sport aber zu erkennbaren Problemen im Alltag führt und trotzdem nicht reduziert wird, besteht die Gefahr einer Sportsucht.

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Wann wird Sport zur Sucht? Die bisherige Studienlage gibt darauf noch keine eindeutigen Antworten.

von Flora Colledge

Inhalt

Verhaltenssüchte

Studienlage

Berichtete Prävalenzraten

Wahrscheinliche Symptome und diagnostische Kriterien

Zwei Formen der Sportsucht

Schnittstelle Essstörung und Sportsucht

Auswirkungen auf die sportliche Leistung

Fazit

Literatur

Emma trainiert seit vier Jahren täglich. Um fünf Uhr morgens steht sie auf, fährt eine Stunde auf dem Radergometer zu Hause – eigentlich vorbildlich. Über Mittag geht sie zusätzlich eine Stunde Power-Walken. An drei Abenden pro Woche besucht sie einen Fitnesskurs und an den freien Abenden führt sie ein Stabilitätstraining zu Hause durch. An den Wochenenden gönnt sie sich keine Pause, sondern geht meistens auf längere Wanderausflüge. Auch bei Erkältungen oder einem verstauchten Fuß führt sie ihr Training fort. Emma ist keine Leistungssportlerin – sie arbeitet Vollzeit. Durch ihr Trainingspensum bleibt ihr keine Zeit für ein Treffen mit Freunden, und Familienfeste sind für sie kaum aushaltbar. Selbst während der Arbeit denkt sie ständig an das nächste Training. Ist sie verhindert, spürt sie schwere Schuldgefühle, kann kaum schlafen und fängt so schnell wie möglich wieder mit dem Training an.

Verhaltenssüchte

Fälle wie der von Emma erscheinen seit den 1970er-Jahren in der wissenschaftlichen Literatur [1, 2]. Solche Einzelfälle und Kohortenstudien gelten dabei als erste Hinweise auf eine „Sportsucht“ [3, 4, 5], die zu den substanzungebundenen Suchtformen, die mit dem Überbegriff „Verhaltenssüchte“ umfasst werden, gezählt werden können. Sie können neben substanzgebundenen Süchten, wie Alkohol- oder
Heroinsucht, auftreten [6]. Offiziell wird nur Spielsucht in den internationalen Kompendien für Krankheiten (das ICD 11) und psychische Störungen (DSM 5) aufgeführt [7]. Andere Verhaltenssüchte wie Kaufsucht, Sexsucht oder Internetsucht werden noch nicht als Störungen anerkannt [8]. Auch für Sportsucht ist diese Anerkennung noch ausstehend.

Studienlage

Ursache für die Unklarheiten in Bezug auf Verhaltenssüchte ist ein Mangel an fundierter Evidenz für die psychischen Merkmale, Symptome und die Ätiologie der Probleme [9]. Die große Mehrheit der Studien zum Thema Sportsucht sind Querschnittstudien, welche kurze Fragebögen einsetzen, um mögliche Symptome zu erfassen [10]. Damit bieten sie Einblicke in Gruppen, die eventuell betroffen sein könnten; so scheint das Phänomen bei Mannschaftssportlern aufzutreten, Einzelsportler wurden jedoch am häufigsten untersucht [11].

Die Studienlage ist allerdings aus zwei Gründen problematisch:

  • Querschnittstudien ermöglichen keine längerfristige Verfolgung betroffener Personen, was Aufschluss über die Störungsentwicklung und das Zusammenspiel mit anderen psychischen Problemen erlauben würde [12].
  • Die aktuell eingesetzten Messinstrumente sind häufig zu wenig trennscharf, um zwischen ambitionierten oder Profisportlern und Personen mit einer Sportsucht zu differenzieren [13]. Erhoben wird beispielsweise, ob Sport als Strategie zur Stimmungsaufhellung genutzt wird, oder ob die Trainingsumfänge im Laufe der Zeit angestiegen sind [14].

Ob Sport und Training aber zu einer psychischen Belastung geworden sind, kann durch solche Fragen nicht herausgefunden werden. Dies führt dazu, dass leistungsorientierte Sportler häufig fälschlicherweise als suchtgefährdet eingestuft werden, obwohl sie nicht unter psychischen Symptomen leiden.

Berichtete Prävalenzraten

Eine Betrachtung der bisher berichteten Prävalenzraten der Sportsuchtgefährdung verdeutlicht dieses Problem der unzureichend etablierten Diagnostik und lässt anhand der großen Schwankungen und der erstaunlich hohen Raten, die Limitationen aktueller Forschung erkennen [13]. Geschätzte Zahlen bewegen sich zwischen 1,9 % [15] und 21 % [16] bei Studierenden, zwischen 1,9 % [17] und 24 % [18] bei sporttreibenden Personen und erreichen Raten von fast 50 % [19, 20] bei Triathleten und Personen, die regelmäßig ein Fitnesscenter besuchen.

Generell wird jedoch davon ausgegangen, dass die Prävalenzraten selbst unter sporttreibenden Personen eher gering sind. Breuer und Kleinert (2009) berichten so von manifesten Störungsmerkmalen bei einer von 1000 sportlich aktiven Personen; bei einer von 10 000 Personen seien diese behandlungsbedürftig [21].

Wahrscheinliche Symptome und diagnostische Kriterien

Trotz der Unklarheiten bezüglich Diagnostik und Prävalenz finden sich in der Literatur wenige Studien, welche das Thema Sportsucht vertiefter untersuchen. Dabei stellen besonders qualitative Studien eine wertvolle Ressource für Forschende und Fachpersonen dar, da sie tiefere Einblicke in die Symptomatologie der Störung erlauben.

Dies ermöglicht eine Etablierung der wahrscheinlichsten Symptome und diagnostischen Kriterien, zu denen substanzsuchtähnliche Merkmale gehören, wie

  • eine Zunahme des Konsums (in diesem Fall: der sportlichen Aktivität) [3],
  • die Vernachlässigung sozialer und beruflicher Verpflichtungen zugunsten dieses Konsums (hier: Sport) [22] und
  • Entzugssymptome wie Ängstlichkeit, Depressivität oder erhöhte Gereiztheit [23].

Ebenfalls erwähnt werden Symptome, die nicht zum Bild der klassischen substanzgebundenen Sucht passen:

  • ein schlechtes Gewissen [24], wenn das Training nicht durchgeführt werden kann, sowie
  • kompensatorische Maßnahmen nach einer unzufriedenstellenden oder ungenügenden Trainingseinheit, zu der die Reduktion der Nahrungsaufnahme gehört [25].

Dass sich Verhaltenssüchte durch solche verhaltensspezifischen Merkmale charakterisieren lassen, wird in der Literatur stark betont [26]. Dies führt jedoch zu einer weiteren Verwirrung und zu Schwierigkeiten
bezüglich einer Definition von Sportsucht. Postuliert wurde, dass exzessives Sporttreiben als kompensatorische Maßnahme oder als Begleitsymptom bei einer Essstörung zu verstehen sei; dies würde die zum Teil gewichts- oder ernährungsfokussierten Symptome erklären [27].

So berichtete eine Forschungsgruppe nach mehreren Gesprächen mit exzessiv sporttreibenden Frauen, dass alle Befragten an einer Essstörung litten [22]. Des Weiteren berichten zuverlässige Studien, die mit Personen, die von Essstörungen betroffen sind, durchgeführt wurden, dass zwischen 35 und 45 % der Personen einen problematischen Bezug zu Bewegung und Sport haben [28, 29]. Obwohl diese Vermutung, dass exzessive Bewegung immer in Begleitung von Essstörungen auftaucht, von vielen anderen Studien widerlegt wurde, besteht kein Konsens über eine klare Differenzierung dieser beiden Störungsbilder [30].

Zwei Formen der Sportsucht

Eine weitgehend akzeptierte Ansicht ist hingegen die, dass Sportsucht in zwei Formen unterschieden werden kann [31]:

  • Primäre Sportsucht ist dabei als „reine“ Verhaltenssucht zu verstehen. Betroffene Personen bewegen sich exzessiv, weil sie die positiven Gefühle während oder nach dem Sporttreiben erleben möchten. Das Ziel der Bewegung ist die Bewegung an sich.
  • Treibt die Person übermäßig viel Sport, um ihr Gewicht zu reduzieren oder um einen Essensanfall zu kompensieren, spricht man von einer sekundären Sportsucht.

Exzessives Sporttreiben könnte also zum einen als eigenständige Verhaltenssucht und zum anderen als Begleitsymptom einer Essstörung (oder eventuell einer anderen psychischen Störung wie der Depression oder dem ADHS) konzipiert werden. Das würde hinsichtlich der problematischen Differenzierung Aufschluss geben. Bezüglich der Symptomatik der primären und sekundären Sportsucht bestehen hierbei gewisse Unterschiede. Kreisen die Gedanken stets um Bewegung, ist eher von einer primären Sportsucht auszugehen [31], wohingegen eine sekundäre Sportsucht einen eher zwanghafteren Charakter haben kann [32].

Schnittstelle Essstörung und Sportsucht

Zwei weitere, ebenfalls noch nicht klassifizierte Störungen liegen an der Schnittstelle von Essstörung und Sportsucht:

  • Anorexia athletica beschreibt das Phänomen exzessiven Trainings trotz ungenügender Energiezufuhr mit dem Ziel, die sportliche Leistung zu verbessern [33].
  • Unter Muskeldysmorphie sind eine ungesunde und unrealistische Beschäftigung mit dem Körperbild und das Streben nach einer sehr muskulösen Körperform, welches ein hohes Trainingspensum nach sich zieht, zu verstehen [34].

Noch ist es zu früh, eine Aussage darüber zu treffen, ob diese Störungen als weitere Formen einer sekundären Sportsucht eingestuft werden sollten, oder ob sie als eigenständige Störungsformen kategorisiert werden können. Eine differenzielle Diagnosestellung muss deshalb besonderen Fokus auf die Ziele der Sportgewohnheiten legen, um mögliche Hinweise zur Art der Störung zu finden.

Auswirkungen auf die sportliche Leistung

Doch welche konkreten Auswirkungen hat Sportsucht auf die sportliche Leistung? Diese Frage wurde bisher kaum untersucht, was einerseits daran liegt, dass Sportsucht als psychisches Phänomen zu verstehen ist und die bisherige Forschung sich dementsprechend fast ausschließlich auf psychische Symptome und Begleitstörungen fokussiert hat. Andererseits wurden die meisten Studien mit Stichproben, die sich aus nicht leistungsorientierten Personen zusammensetzten, durchgeführt; die Probanden hatten in der Regel keine bevorstehenden Wettkämpfe oder Leistungsziele, somit standen leistungsbezogene Parameter nicht im Fokus. Ferner werden eventuelle sportsuchtbezogene physische Probleme unabhängig behandelt [4, 35]; wer sich wegen exzessiven Sporttreibens verletzt, sucht einen Arzt oder Physiotherapeuten auf. Ob die betroffenen Personen ebenfalls psychotherapeutische Behandlung in Anspruch nehmen, bleibt unklar.

Übertrainingssyndrom

Bisher untersucht wurde das sogenannte Übertrainingssyndrom. Es kann bei einem sehr hohen Trainingspensum und ungenügender Erholung nach längerer Zeit entstehen. Das Übertrainingssyndrom ist von einer Sportsucht abzugrenzen, insofern es sich bei Übertraining um einen rein physiologischen Prozess handelt, welcher nicht zwingend von psychischen Symptomen begleitet wird [36]. Ein Übertraining kann beispielsweise die Folge einer Wettkampfvorbereitung oder einer besonders stresserfüllten Lebensphase sein, welche die Erholungsfähigkeit der Athleten überschreitet. Dass die Erholungsphase fehlt, fällt den Athleten häufig nicht auf oder wird durch den Druck der Mannschaft oder des Trainers verdrängt.

Das Übertrainingssyndrom geht dabei weit über eine akute Ermüdung hinaus und kann sich in verschiedenen Formen, darunter in Herzrasen, Erkältungssymptomen, körperlichen Schwächeerscheinungen und Schlafproblemen manifestieren. Von Sportsucht betroffene Personen laufen wegen ihres hohen und strikten Trainingspensums Gefahr, ein Übertrainingssyndrom zu entwickeln [37]. Sportsucht als tatsächliche Ursache für das Syndrom wird in einer physiologiefokussierten Anamnese möglicherweise aber häufig übersehen. Da Behandlungsoptionen für Sportsucht noch nicht etabliert sind, existiert noch kein systematisches Therapiekonzept, welches psychische und physische Symptome anvisiert.

Sobald Sport zu erkennbaren Problemen und Beeinträchtigungen im Alltag führt und trotzdem nicht reduziert wird, besteht die Gefahr einer Sportsucht.

Fazit

Zusammengefasst lässt sich sagen, dass nur eine kleine Minderheit der sporttreibenden Personen exzessiv und ungesund trainiert. Manche dieser Personen leiden zusätzlich an einer weiteren psychischen Erkrankung, wie beispielsweise einer Essstörung, oder verfolgen bestimmte körper- oder leistungsbezogene Ziele.

In der Literatur wird eine Reihe physiologischer Erscheinungen in Zusammenhang mit Sportsucht berichtet, welche mit Leistungseinschränkungen einhergehen. Ermüdungsbrüche, Muskelfaserrisse oder andere Verletzungen und Erkältungen haben nicht nur einen akuten Einfluss auf die Leistungsfähigkeit, sondern können sich bei der Weiterführung des Trainings zu chronischen Problemen entwickeln [38]. Ein hoher Trainingsumfang ist dabei nicht ausschlaggebend; sobald Sport aber zu erkennbaren Problemen und Beeinträchtigungen im Alltag führt und trotzdem nicht reduziert wird, besteht die Gefahr einer Sportsucht.

Therapiemaßnahmen sollten also den physiologischen Heilungsprozess begünstigen, der Fokus sollte allerdings auf den psychologischen Ursachen liegen. Behandlungsansätze sind noch in der Entwicklungsphase,
eine klare Einstufung des Phänomens Sportsucht und etablierte Diagnosekriterien sollten diesen Prozess jedoch vorantreiben.

Literatur

Die Literaturliste finden Sie hier.

Der Artikel ist erschienen in der zkm 1/2020.

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Flora Colledge arbeitet als Postdoktorandin am Departement für Sport, Bewegung und Gesundheit der Universität Basel. Ihr Forschungsschwerpunkt liegt auf Sport und damit verbundenen psychischen Störungen, insbesondere exzessives Sporttreiben und Sportsucht. Neben ihren wissenschaftlichen Tätigkeiten ist sie professionelle Triathletin.