Traditionelle HeilsystemeTraditionelle Chinesische Medizin – Der (Stellen-)Wert der Erfahrung

Die Geschichte der TCM ist eine tausendjährige Ansammlung therapeutisch relevanter Theorien und Praktiken unterschiedlichster Art. Aus dem reichhaltigen historischen Erbe müssen die Anteile herausgefiltert werden, die auch zukünftig einen Nutzen entfalten können. Dazu dient auch die „Sammlung Unschuld“ in der Berliner Staatsbibliothek. 

Yin-Yang, chinesische Medizin, Medizinsystem
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Die Yin-Yang- und Fünf-Phasen-Lehren wurden vor gut 2000 Jahren niedergelegt

von Paul U. Unschuld

Inhalt

Geschichte der chinesischen Medizin
Yin-Yang und Fünf-Phasen-Lehre
Akupunktur
Pharmazeutische Heilkunde
Heilkundliche Schriften
Heutige Situation
Literatur

Anfang der 1970er-Jahre erregte ein Bericht des China-Korrespondenten der New York Times, James Reston, große Aufmerksamkeit. Nach einer Blinddarmoperation in Peking hatte er den Ärzten gestattet, die postoperativen Schmerzen mit einer für ihn völlig unbekannten Heilweise, der Akupunktur, zu lindern. Darüber berichtete er auf der Titelseite der New York Times [1] und löste damit eine Entwicklung aus, die bis heute ihre Dynamik kaum verloren hat. Zahlreiche Ärzte, nicht ärztliche Praktiker, Laien und andere Interessierte reisten kurz darauf nach China, um sich über die Möglichkeiten der Nadeltherapie zu informieren. Sie erfuhren gleichzeitig, dass es in China auch noch eine lebendige, Jahrtausende alte pharmazeutische Therapie, hauptsächlich auf der Grundlage pflanzlicher Substanzen, gebe.

Geschichte der chinesischen Medizin

Was sie nicht erfuhren, war, dass in China seit Beginn des 20. Jahrhunderts ein tiefgreifender politischer Konflikt herrscht(e). Seit dem ersten Opiumkrieg 1839/40 hatte das Land eine vielfache Demütigung erfahren, die für jeden sichtbar in einem Verlust an Territorien und politischer Souveränität an europäische Mächte mündete – an die USA, an Russland und (für die chinesische Psyche bis heute am schmerzhaftesten) an den Inselstaat Japan. Die lange Kette an Traumata, verursacht von Mächten, die sich auf moderne Wissenschaft und Technologie stützen konnten, regte alle Reformer und Revolutionäre, nicht zuletzt die frühen Intellektuellen der Kommunistischen Partei dazu an, die eigene historische Naturwissenschaft und auch die chinesische Medizin als veraltet, ja sogar gefährlich für die Gesundheit der Bevölkerung abzulehnen und die Übernahme der modernen westlichen Medizin zu fordern [2][3][4].

Auf der anderen Seite lebten Hunderttausende von der Praxis dieser Medizin, und die Bevölkerung kannte viele traditionelle Heilweisen, die sie tagein, tagaus erfolgreich in Anspruch nahm. Die mehrfachen Versuche der politisch Verantwortlichen kurz nach Gründung der Republik 1911, dann in den 1920er-Jahren und auch noch nach Gründung der Volksrepublik China, die chinesische Medizin zu verbieten, erwiesen sich als undurchführbar. In den 1950er-Jahren gab schließlich Mao Zedong ein für alle Mal die Richtung vor, der die Politik bis heute gefolgt ist: Er bezeichnete das historische Erbe der chinesischen Medizin als eine Schatzkammer, deren Schätze es freizulegen gelte [5]. Damit war die Realität ausgesprochen und die Problematik auf den Punkt gebracht.

Die Geschichte der chinesischen Medizin ist eine mehrtausendjährige Ansammlung von therapeutisch relevanten Theorien und Praktiken unterschiedlichster Art. Unzählige Ärzte, Naturkundler und Laien haben ihre Mitmenschen beobachtet, haben sich Gedanken gemacht, was die Ursachen von Kranksein sein könnten und wie man Kranksein am wirkungsvollsten vorbeugen, mildern oder gar heilen könne. Es gibt wohl kaum eine natürliche Substanz aus der pflanzlichen, tierischen oder mineralischen Welt und auch kaum einen Alltagsgegenstand, der nicht auf seine therapeutische Brauchbarkeit hin untersucht und für irgendeinen Zweck als wirkungsvoll erkannt und empfohlen worden wäre. Diese Empfehlungen sind bis heute in einer überaus reichhaltigen Literatur nachzulesen. Der Weisung Mao Zedong zu folgen bedeutete, aus diesem schier unübersehbaren Reichtum an Gedanken und Erkenntnissen diejenigen auszuwählen, die für ein China, das wieder erstarken sollte, wertvoll sein könnten. Das wieder erstarkte China sollte sich voll und ganz auf moderne Naturwissenschaft und Technologie und natürlich in der Medizin auf Biochemie und Biophysik, auf Genetik und Molekularbiologie stützen [6].

Bereits 1950 war die Xiangshan-Kommission gegründet worden, die sich dieser Aufgabe widmete [7]. Verschiedene Modelle der zukünftigen Integration historischer Versatzstücke aus der chinesischen traditionellen Heilkunde in ein modernes Gesundheitswesen wurden durchgespielt. Immer war der Tenor derselbe: das Nützliche auswählen und in einen neuzeitlich-wissenschaftlichen Rahmen stellen. An die chinesische Medizin als Exportschlager dachte niemand. Die chinesische Seite war vollkommen überrascht von dem Interesse und der plötzlichen Vielzahl an Besuchern, die nun in den 1970er-Jahren gleichzeitig mit der Öffnung des Landes unter der Maßgabe von Deng Xiaoping herbeiströmten und sich für die „Traditionelle Chinesische Medizin“ und die Akupunktur begeisterten. Wie es ein stellvertretender Minister für Wissenschaft seinerzeit mir gegenüber ausdrückte: „Wir verstehen das nicht. Der Westen hatte vor fünfhundert Jahren die wissenschaftliche Revolution. Und nun kommen Sie zu uns, um sich etwas Unwissenschaftliches anzueignen, das wir am liebsten loswerden möchten.“ Diesen Satz würde heute kein politisch Verantwortlicher mehr aussprechen und schon gar nicht gegenüber einem Ausländer.

Auf der Grundlage der Überlegungen der Xiangshan-Kommission war bereits in den 1960er-Jahren ein Terrain abgesteckt worden, das als „Chinesische Medizin“ in Lehrbüchern in China dargelegt wurde. Als sich das Ausmaß des ausländischen Interesses zeigte, bildeten diese Lehrbücher die Grundlage für die Darstellung nach außen. Wenige der an der TCM und Akupunktur interessierten Besucher aus dem Westen besaßen Chinesischkenntnisse, ganz zu schweigen von dem klassischen Chinesisch, das ihnen Zugang zu den antiken, vormodernen Texten ermöglicht hätte. Sie wurden in den Grundzügen einer angeblich „Traditionellen Chinesischen Medizin“ von Personen unterrichtet, die zwar ausländische Sprachen beherrschten, aber meist nur so viel von der historischen chinesischen Medizin wussten, wie es ihnen die Xiangshan-Kommission vorgegeben hatte. Die seinerzeit in China in aller Eile in europäische Sprachen übersetzten Lehrbücher spiegelten ebenfalls nur das wider, was die Xiangshan-Kommission und andere von den Behörden beauftragte Personen als sinnvolle Auswahl aus dem historischen Erbe definiert hatten.

Die Folgen der Bemühungen ausländischer Besucher Chinas, so schnell wie möglich etwas über die „Traditionelle Chinesische Medizin“ zu erfahren und an ein westliches Publikum weiterzugeben, und der Bemühungen der chinesischen Seite, ein Bild einer „Traditionellen Chinesischen Medizin“ (diese Bezeichnung wurde erstmals 1955 verwendet) in den Westen zu vermitteln, das diese Medizin in einem positiven und zukunftsorientierten Licht erscheinen lassen sollte, sind bis heute wirkungsvoll. Sie haben eine verzerrte, historisch unzutreffende Realität einer „Traditionellen Chinesischen Medizin“ geschaffen und gleichzeitig den Blick auf den Reichtum der historischen chinesischen Medizin weitgehend verstellt.

Yin-Yang- und Fünf-Phasen-Lehre

Ob die „Traditionelle Chinesische Medizin“ eine Erfahrungsmedizin ist, darüber ließe sich trefflich streiten. Die von den überwiegend in moderner Medizin ausgebildeten Mitgliedern der Kommission und anderen Beteiligten in den Anfangsjahren der VR China als zhong yi (wörtlich: „chinesische Medizin“) definierte Auswahl aus dem großen Erbe kam sprichwörtlich am grünen Tisch zustande. Die fortan als TCM definierte Auswahl aus der historischen Heilkunde sollte der modernen Naturwissenschaft nicht eklatant widersprechen. Damit waren unzählige therapeutische Sichtweisen und Anwendungen, die aus der Erfahrung der Bevölkerung erwachsen waren, ausgeblendet. Stattdessen wurden Theorien zum Maßstab der Legitimation historischer Vorstellungen erwählt, die zum einen nie in der Bevölkerung weiten Anklang gefunden hatten und die zum anderen der Natur gleichsam übergestülpt worden waren. Sie hatten die Erfahrungen, die man mit der so geformten Heilkunde machen konnte, in eine enge Bahn gelenkt.

Es ist die Rede von den Lehren der allumfassend systematischen Entsprechungen aller Phänomene, wie sie in den Yin-Yang- und Fünf-Phasen-Lehren vor gut 2000 Jahren niedergelegt worden waren. Diese Theorien, die heute weltweit als die Grundlagen Traditioneller Chinesischer Medizin angesehen werden, waren tatsächlich nur die ideologisch definierte Arena einer minimalen hoch gebildeten Oberschicht. Es ist heute sehr deutlich erkennbar, dass diese Theorien zu keiner Zeit aus dieser Oberschicht den Weg in eine breite Öffentlichkeit gefunden haben. Die Masse der Bevölkerung hat diese Theorien nie aufgenommen. Die Yin-Yang- und Fünf-Phasen-Lehren bestimmten die Erfahrungen derer, die sich ihnen öffneten, und das waren nur sehr wenige. Die Heilkunde des Großteils der Bevölkerung kümmerte sich nicht um diese Theorien und ging andere Wege.

Schon in den antiken Texten der chinesischen Medizin ist erkennbar, dass Autoren die Grenzen der rigiden Kategorisierung aller Phänomene entweder nach dem Zwei-Vier-Sechs-Zwölf-Schema der Yin-Yang-Lehren oder nach dem Fünfer-Schema der Fünf-Phasen-Lehre in Frage stellten. Sie konnten die Zahl der Organe nicht in diese Schemata einfügen und sie sahen, dass es mehr Charaktereigenschaften unter den Menschen gibt, als es nach den Yin- Yang- und Fünf-Phasen-Lehren möglich war (vgl. entsprechende Passagen im Ling Shu, insbesondere Kap. 80; [8]). Doch diese Lehren legten sich wie ein ehernes Band über die Erkenntnis- und Erfahrungswerte späterer Generationen – über Jahrhunderte waren sie kanonisiert und niemand stellte sie mehr in Frage. Liest man heute die antiken Klassiker der chinesischen Medizin mit unbefangenem Blick, dann ist der Eindruck kaum zu vermeiden, dass hier eine für China völlig neuartige Medizin auf einer neuen säkular-naturwissenschaftlich theoretischen Grundlage niedergeschrieben war, die offenbar derart revolutionär war, dass sie kaum einen Widerhall in der chinesischen Oberschicht finden konnte. Geradezu symbolisch ist die Geringschätzung, die in diesen Texten dem Huang Di, also dem Thearchen Chinas, der höchsten metaphysischen Autorität, gegenüber zum Ausdruck gebracht ist. Wer für diese Texte verantwortlich ist und ob sie aus China selbst oder zumindest in wesentlichen Anregungen aus einer anderen Kultur stammten, bleibt unklar.

Schaut man die Akupunktur- und TCM-Lehrbücher derjenigen westlichen, heutigen Verfasser an, die ihren Lesern und Anhängern eine „authentische“ chinesische Medizin verheißen, so führen sie vielfach dieselbe unreflektierte Unterordnung unter eine Natursicht weiter, die in China erst vom 11./12. Jahrhundert bis zum 16./17. Jahrhundert für einen Teil der gebildeten Elite selbstverständlich war.

Die Anwender dieser Natursicht sahen auf die Heilkunde gleichsam aus einem festgefügten ideologischen Käfig, aus dem sie nie den Ausweg fanden oder gar gesucht hätten. Warum auch? Von der Abfolge der Dynastien im politischen Bereich bis hin zu der Abfolge der Jahreszeiten boten die Yin-Yang- und Fünf-Phasen-Lehren überzeugende und logische Erklärungen. Und da viele von ihnen bemüht waren, die Theorien des Altertums in eine klinische Praxis umzusetzen, machten sie auch ihre Erfahrungen. Sie beschrieben eine theoriegeleitete Erfahrungsmedizin, die sich zunehmend in individuelle, eben aus persönlicher Erfahrung gespeiste Schulmeinungen aufsplitterte. Erst die Reformanstrengungen in den Anfangsjahren der VR China schufen das Bild einer einigermaßen homogenen „chinesischen Medizin“. Eine solche hat es zuvor nie gegeben.

Die Schriften der theorietreuen Elite sind freilich höchst eindrucksvoll. Insbesondere seit der chinesischen „Renaissance“, besser bekannt als die Song-Jin-Yuan-Epoche des 12.–15. Jahrhunderts, ist eine Reihe überaus heterogener Schriften überliefert, die die Theorien der systematischen Entsprechungen mit den unterschiedlichen persönlichen Erfahrungen der Autoren in Einklang bringen sollten. Da schrieb z. B. Li Gao (1180–1251) ein Werk über die Bedeutung der Verdauungsorgane, weil er in einer Zeit von Krieg und Hungersnot erkannt hatte, dass die Ernährung und folglich die Verdauung der Speisen ganz wesentlich für die Gesundheit der Bevölkerung verantwortlich waren. Andere folgerten aus ihren Erfahrungen, dass die Menschen viel zu viel Hitze ausgesetzt waren und in sich aufstauten, so dass sie krank wurden. Wieder andere Autoren kamen aufgrund ihrer persönlichen Erfahrungen zu dem genau gegensätzlichen Schluss und sahen die Kälte als die größte Gefahr. Einen gemeinsamen Nenner bildeten die Theorien der systematischen Entsprechungen: Mit ihnen ließ sich für noch jede Erfahrung eine Erklärung und somit eine theoretische Rechtfertigung finden.

Akupunktur

Nicht zuletzt hatte die Akupunktur in der 1. Hälfte des 2. Jahrtausends eine begrenzte Zeit der Blüte. Für über ein Jahrtausend, bis in das 12. Jahrhundert, hatten die Yin- Yang- und Fünf-Phasen-Theorien der systematischen Entsprechungen nicht einmal in der Oberschicht einen nachhaltigen Eindruck erwecken können. Die heute als Klassiker der chinesischen Medizin so hoch geschätzten Schriften des Huang Di (zumeist falsch übersetzt als „Gelber Kaiser“), das Huang Di Neijing Su wen, das Ling shu und das Nan jing, ebenso wie das Rezeptwerk Shang han lun des Zhang Ji aus dem 2. Jahrhundert, weckten keine große Begeisterung. Im Gegenteil, sie fanden kaum eine Handvoll von interessierten Autoren, die sich die in diesen riesigen Texten von bis zu 60 000 Schriftzeichen niedergelegten und auch heute noch überaus lesenswerten Aussagen zu eigen machten. Die Klassiker gingen verloren. Als man sich ihrer im 12. Jahrhundert endlich wieder erinnerte, da waren sie nur noch in der aus fragmentarischen Bruchstücken von Wang Bing im 8. Jahrhundert zusammengesetzten Version des Su wen verfügbar oder mussten aus Korea, wo sich noch Kopien befanden, wieder zurückgeholt werden.

Von der Neubewertung der Antike profitierte auch die Akupunktur, die in nicht geringen Teilen als Aderlass praktiziert wurde. Bis zur Veröffentlichung des Zhen jiu da cheng, einer die Entwicklung im Jahre 1601 abschließenden Enzyklopädie, bemühten sich 3–4 Jahrhunderte lang zahlreiche aufmerksame Ärzte, dieses Heilverfahren zu nutzen und zu erläutern. Dann liefen diese Bemühungen aus und der scharfsichtige Arzt und Autor Xu Dachun (1693– 1771) sprach in seinem Rückblick auf die Geschichte der Medizin in China im Jahre 1754 von der Akupunktur als einer „verlorenen Tradition“ [9]. Die Akupunktur lebte zwar in verschiedenen Schulen und Familientraditionen fort, aber nicht unbedingt auf der anspruchsvollen theoretischen Grundlage, die die Autoren des 12. bis Anfang des 17. Jahrhunderts angestrebt hatten. Die blutigen Praktiken wurden durch die milde Schub- und Zugmassage (Tuina) ersetzt, die zudem auch bei Kindern anwendbar war. Nun verfassten Autoren Rezeptbücher für die Nadeltherapie, die ähnlich strukturiert waren wie die Arzneirezeptbücher. Sie nannten Krankheiten und gaben die Punkte an, an denen die Nadeln einzustechen seien. Da war kein Raum mehr für Unterscheidungen unterschiedlicher Erkrankungen von Männern, Frauen oder Kindern, Alten oder Jungen, mit der einen oder anderen Einordnung des Zustands nach den Kategorien der Yin-Yang- oder Fünf-Phasen-Lehren. Das moderne europäische Konzept einer Ganzheitlichkeit, das man ohne große Mühen auch in die antiken Theorien der systematischen Entsprechungen aller Phänomene hineinlesen kann, war in diesen Therapieanweisungen nicht berücksichtigt. Sie spiegelten die theoriefreie Erfahrung vieler Heiler wider, die nach dem Einstich der Nadeln an bestimmten Körperpunkten wiederholbare Wirkungen beobachtet hatten, ohne dass es einer theoretischen Begründung bedurft hätte.

Pharmazeutische Heilkunde

Das erlaubt die Überleitung von der Nadeltherapie zur chinesischen Pharmazie. Bereits die Grabfunde aus dem 2. Jahrhundert v. Chr. verweisen auf eine äußerst eindrucksvolle Arzneikunde [10]. Hunderte von natürlichen Substanzen und eine sehr differenzierte pharmazeutische Aufbereitung der Rohdrogen zu Arzneidrogen und dann zu Rezepturen künden von einer offenbar langen prähistorischen, d. h. literarisch nicht bezeugten Entwicklung. Diese Entwicklung setzte sich bis in das 17. Jahrhundert fort, als mit dem Bencao gangmu des Li Shizhen (1518–1593) eine Enzyklopädie erschien, die seinerzeit auf dem gesamten eurasischen Kontinent nicht ihresgleichen hatte [11]. Li Shizhen stammte aus einer Mehrgenerationen-Arztfamilie. Sein Vater bereits war als Autor wirkungsvoller Schriften bekannt. Li Shizhen und ein Team unbekannter Größe entnahmen der medizinisch-pharmazeutischen Literatur, nicht medizinischen Schriften und auch den Aussagen örtlicher Experten, die Li Shizhen auf weiten Reisen besuchte, ein überaus vielfältiges Wissen, das sie in nahezu 1900 Monografien mit 1,6 Mio. Schriftzeichen in 52 Kapiteln niederlegten. Wässer, Feuer, Minerale, Pflanzen, Vögel, Vierfüßler, der Mensch und alle möglichen Gegenstände und Materialien des täglichen Lebens fanden in dieser Enzyklopädie ebenso Berücksichtigung wie zahllose kulturelle Facetten, die deren Verwendung, Ursprung und Bearbeitung betrafen.

Wenn man von "chinesischer Heilkunde" sprechen möchte, dann ist diese Bezeichnung für das pharmazeutische Wissen Chinas angebracht.

Die pharmazeutische Heilkunde Chinas hat sich bis in die Song-Jin-Yuan-Epoche des 12.–15. Jahrhunderts der Unterordnung unter die Yin-Yang- und Fünf-Phasen-Theorien entziehen können. Von dem Shennong bencao, einer ersten Einzelbeschreibung von 365 pharmazeutischen nutzbaren Substanzen aus vermutlich dem 1. Jahrhundert, bis zu den großen Materia-medica-Werken der Song-Zeit mit über 1000 Monografien war offenbar das Ausprobieren aller möglicher Substanzen der wichtigste Motor, der die Zahl der beschriebenen Substanzen in die Höhe trieb. Nicht nur hunderte auch aus heutiger Sicht nutzbare Substanzen, wie Minze, Süßholzwurzel, Eisenhut und Beifuß, oder ebenfalls hunderte tierischer und mineralischer Substanzen, wie Hirschgeweih und die Innenhaut des Hühnermagens, Realgar und Schwefel, wurden im Detail beschrieben. Auch zahlreiche Substanzen, die heute in der Arzneikunde eher befremdlich wirken, wie zerschlissene Strohsandalen, von Menstruationsblut befleckte Unterwäsche oder die Bodenerde einer Stelle, an der bestimmte Tiere regelmäßig urinieren, wurden in allen Vor- und Nachteilen ihrer Wirkungen auf den menschlichen Organismus diskutiert. Bis in das 12. Jahrhundert hatte kein Autor eines Arzneibuchs die Notwendigkeit gesehen, die Beschreibung der Wirkungen dieser Substanzen im Körper mit den Yin- Yang- und Fünf-Phasen-Theorien in Einklang zu bringen. Zhang Ji, der Autor des Shanghan lun um 200, hatte das versucht. Er blieb isoliert.

Erst mit der Neuordnung der politischen Ideologie während der Song-Jin-Yuan-Epoche wurde der Graben zwischen theoriegeleiteter Medizin einerseits und vorwiegend auf Erfahrung gegründeter Arzneiheilkunde andererseits überbrückt. Es entstand eine Pharmakologie der systematischen Entsprechungen [12][13][14], die eine eigene Dynamik aufnahm, bis sie im 15./16. Jahrhundert alle Kraft der Weiterentwicklung einbüßte und fortan als Ideensteinbruch diente, mit dem sich alles und jedes Phänomen begründen ließ. Hatten zu Beginn noch der Geschmack im Mund (süß, salzig, sauer, bitter, neutral) und die Temperaturwirkung im Leib (heiß, warm, kalt, kühl, ausgeglichen) als wichtige Hinweise für die Einordnung einer Substanz in die Yin-Yang- und Fünf-Phasen-Theorien gegolten, so waren am Ende der Entwicklung ein und derselben Substanz im Rückschluss mehrere oder sogar alle 5 Geschmacksrichtungen zugesprochen worden, um die aus der Erfahrung der Anwendung erkannten Wirkungen mit den vorgeschriebenen Theorien in Einklang zu bringen. Das System hatte sich als wenig richtungsweisend erwiesen – es verharrt(e) seitdem im Stillstand.

Heilkundliche Schriften

Wie die chinesische Alltagstherapie der vergangenen Jahrhunderte tatsächlich ausschaute, das ist weder aus den so eindrucksvollen gedruckten Werken der Arzneikunde noch der Akupunktur und deren theoretischer Begleitliteratur erkennbar. Ein großes Fenster mit Blick auf die therapeutische und konzeptionelle Realität haben erst die 1100 Bände handschriftlicher chinesischer heilkundlicher Texte geöffnet, die seit einigen Jahren in der Staatsbibliothek zu Berlin aufbewahrt werden und über den Zentralkatalog als „Sammlung Unschuld“ weltweit zunehmend Aufmerksamkeit erlangt haben und aufgerufen werden [15]. Die Sammlung Unschuld umfasst 1100 Bände unterschiedlicher Inhalte. Es sind Niederschriften von gebildeten Ärzten, die sich über Jahre hinweg alles notierten, was sie für heilkundlich wertvoll erachteten. Darunter befinden sich Abschriften mit Auszügen aus der gedruckten Literatur mit Anmerkungen, die sich aus der persönlichen Erfahrung mit den gedruckten Ausführungen und Anweisungen ergaben. Es sind Handschriften von Laienheilern, die alles niederschrieben, was sie von anderen empfohlen bekamen, und die ihre eigenen Erfahrungen hinzufügten. Es sind die Niederschriften von Apothekern, die in diesen Handschriften ihre geheimen Rezepte in aller Einzelheit niederlegten oder in anderen Handschriften ohne Nennung der Einzelbestandteile für die Kundschaft anpriesen. Es sind umfangreiche Handschriften, in denen einzelne Familien über Generationen hinweg alle Krankheitsepisoden in ihrem Haushalt verzeichneten und die Mittel, die zur Behandlung in Anwendung kamen. Es finden sich freilich auch Handschriften von Magiern und Zauberern, die mit exorzistischen Maßnahmen Krankheiten behandelten, und auch Aufzeichnungen von Betrügern, die sich Hunderte von Tricks notiert hatten, wie man z. B. aus wertlosen Alltagssubstanzen kostbar erscheinende Arzneisubstanzen herstellt und wie man mit rhetorischer Finesse eine naive oder auch argwöhnische Kundschaft in die Irre und zum Ankauf überteuerter, aber unwirksamer Arzneimittel führt.

Seit 2014 finanziert das Bundesministerium für Bildung und Forschung Projekte am Institut für Chinesische Lebenswissenschaften der Charité – Universitätsmedizin in Berlin, um diese Handschriften wissenschaftlich auszuwerten. Aus hunderten Rezeptsammlungen in der Sammlung Unschuld haben Henning Otte und Zheng Jinsheng eine Datenbank mit mehr als 40 000 Rezepten erstellt. Diese Datenbank ist weltweit einmalig. In Zusammenarbeit mit BiColl, einem molekularbiologischen Labor in München und Shanghai, verspricht sie sehr viel praxisnähere Aussagen über die Wirksamkeit historischer Rezepte und Einzelsubstanzen zu liefern als die bislang schwerpunktartig analysierte gedruckte Literatur. Alle Rezepte und die ihnen zugeschriebenen Wirkungen in den Handschriften sind bewusst und vermutlich in der Annahme realer Wirksamkeit von Personen aufgezeichnet worden, die unmittelbar mit dieser Wirksamkeit in Kontakt gekommen waren. Es kann davon ausgegangen werden, dass Rezepturen und Einzelsubstanzen, die auch aus heutiger Sicht eine gute Wirkung erzielen, im Laufe der Jahrhunderte häufiger und mit mehr Nachdruck empfohlen wurden als weniger wirksame. Die bisherigen Ergebnisse der Auswertung der Datenbank bestätigen diese Hypothese.

Heutige Situation

TCM ist heutzutage sowohl in China als auch in der westlichen Welt ein vielbeachtetes Heilsystem. Im November 2019 fand in Jinan unter dem Vorsitz des stellvertretenden Präsidenten des Volkskongresses, Prof. Chen Zhu, zwei Tage lang eine programmatische „6. Konferenz über Medizin und Wissenschaft“ statt. Die zahlreichen Vorträge waren allesamt der TCM gewidmet. Ihnen lauschten 3000 Zuhörer in einem großen Saal, tausende waren über Video hinzugeschaltet. Die Yin-Yang- und Fünf-Phasen-Lehren kamen nicht einmal zur Sprache. Im Mittelpunkt standen die Vorträge der drei Nobelpreisträger Randy Shekman aus den USA, Richard Timothy Hunt aus England und Edvard Moser aus Norwegen. Sie verkörperten moderne Genetik, Zellforschung und Biologie und wiesen damit auf die Zukunft. Zusätzlich als vierter Ausländer zu einem Vortrag eingeladen und zuvor mit dem Shulan-Preis bedacht, der höchsten Ehrung Chinas im Bereich der Medizin, war ich: Ich symbolisierte die Bedeutung der langen und vielfältigen Geschichte der chinesischen Medizin, die nun auch im Ausland auf wissenschaftlichem Niveau gewürdigt wird.

Interessenkonflikt: Der Autor erklärt, dass keine Interessenkonflikte bestehen.

Literatur

[1] Reston J. Now, About my Operation in Beijing. New York Times; 26.07.1971

[2] Croizier R. Traditional Medicine in Modern China. Science, Nationalism, and the Tensions of Cultural Change. Cambridge, Mass.: Harvard University Press; 1968

[3] Taylor K. Chinese Medicine in Early Communist China, 1945–63. London, New York: Routledge-Curzon; 2005

[4] Ots T. Medizin und Heilung in China. Annäherung an die traditionelle chinesische Medizin. Berlin, Hamburg: Dietrich Reimer; 1987

[5] Taylor K. Chinese Medicine in Early Communist China, 1945–63. London, NewYork: Routledge-Curzon; 2005: 120

[6] Unschuld PU. Chinas Trauma – Chinas Stärke. Niedergang und Wiederaufstieg des Reichs der Mitte. Heidelberg: Springer-Vieweg; 2015

[7] Unschuld PU. Traditionelle Chinesische Medizin. München: C. H. Beck; 2013

[8] Unschuld PU. Antike Klassiker der Chinesischen Medizin. Ling Shu/Zhen Jing. Berlin: Cygnus; 2015: 865ff.

[9] Unschuld PU. Forgotten Traditions of Ancient Chinese Medicine. Brookline, Mass.: Paradigm; 1989

[10] Harper D. Early Chinese Medical Literature: The Mawangdui Medical Manuscripts. New York: Kegan Paul International; 1998

[11] Unschuld PU. Pen-Ts’ao. 2000 Jahre traditionelle pharmazeutische Literatur Chinas. München: Heinz Moos; 1973

[12] Unschuld U. Das T’ang-yeh pen-ts’ao und die Übertragung der klassischen chinesischen Medizintheorie auf die Praxis der Drogenkunde. Dissertation. München; 1972

[13] Unschuld U. Traditional Chinese Pharmacology. An Analysis of its Development in the Thirteenth Century. Isis 1977; 68: 224–248

 [14] Goldschmidt A. The Evolution of Chinese Medicine. Song Dynasty, 960–1200. London, New York: Routledge; 2009: 173ff.

[15] Unschuld PU, Jinsheng Z. Chinese Traditional Healing. The Berlin Collections of Manuscript Volumes from the 16th Through the Early 20th Century (Sir Henry Wellcome Asian Series, Band 10). Leiden: Brill Academic; 2012

Der Artikel ist erschienen in der Erfahrungsheilkunde 2/2020

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Autor

Prof. Dr. phil. Paul U. Unschuld studierte Pharmazie, Sinologie und Politische Wissenschaften in Hannover und München und Public Health an der Johns Hopkins University in Baltimore. Er habilitierte in Geschichte der Pharmazie, Sinologie und Geschichte der Medizin. Nach Lehrtätigkeit in den USA wirkte er ab 1984 am Institut für Geschichte der Medizin der LMU in München und seit 2006 als Direktor des Instituts für Chinesische Lebenswissenschaften der Charité – Universitätsmedizin Berlin.

Seine Forschungen und Veröffentlichungen sind dem Vergleich der Heilkunde in der Geschichte der europäischen und chinesischen Kultur gewidmet. Für seine erstmalige philologische Übersetzung der drei antiken chinesischen Klassiker der Medizin wurde er 2018 mit dem Sonderpreis für Literatur der Behörde der VR China für die Medien und 2019 als erster Ausländer mit dem Sonderpreis Medizin der Shulan-Stiftung ausgezeichnet.