RückenschmerzFaszien: Ein geniales Gewebe

Faszien sind kein statisches Gewebe, sondern veränderbar. Erfahren Sie, welche Faktoren sie beeinflussen und wie Sie sie gesund halten.

Mann mit nacktem Oberkörper, der auf einem weißen Hocker sitzt und sich mit der rechten Hand an den unteren Rücken fasst.
S. Schneider/Thieme; posed by a model

Ehemals das Aschenputtel der Anatomie, wegpräpariert und kaum beachtet, geraten Faszien immer mehr in den Fokus der naturwissenschaftlichen Forschung – mit teilweise bahnbrechenden Ergebnissen. Welche Rolle sie spielen, erklärt Robert Schleip, Direktor der Fascia Research Group an der Universität Ulm und der Technischen Universität München, im Interview.

Was macht die Erforschung der Faszien so interessant?

In der Rolfing Methode der Strukturellen Integration wird den Faszien schon immer eine große Bedeutung zugesprochen: Sie gelten aus der Perspektive des Behandlers als wichtigstes Gewebe überhaupt, wichtiger als z. B. die Muskulatur. Allerdings war das Wissen über die Faszien früher relativ begrenzt. Im Laufe der Jahre haben sich jedoch verschiedene Forscher mit dem Thema beschäftigt – und ein völlig neues Licht auf dieses Gewebe geworfen.

So berichtete Jochen Staubesand, ein Phlebologen aus Freiburg, in der Zeitschrift „Manuelle Medizin“ bereits 1996, wie er mittels histologischer Gewebeuntersuchungen glattmuskelähnliche Zellen in der Fascia cruris – das ist die Faszie, welche die Unterschenkelmuskulatur umhüllt – fand. Gleichzeitig wies die Faszie eine hohe Dichte an sympathischen Nervenendigungen auf. Ausgehend von diesen Beobachtungen formulierte Staubesand die Hypothese, dass es eine Faszienkontraktilität geben könnte, die vom Vegetativum gesteuert wird; dass sich Faszien also z. B. durch zu viel Stress verspannen können und zwar unabhängig von der neuromuskulären Tonusregulierung.

Für Behandelnde, die mit den Faszien arbeiten, ist das natürlich hochinteressant. Es würde z. B. den häufigen Befund erklären, dass das fasziale Bindegewebe sich bei längeren Zeitspannen von chronischem emotionalen Stress deutlich spürbar verhärtet.

Sie sprechen in Ihren Publikationen und Vorträgen auch von der Faszie als Sinnesorgan. Was meinen Sie damit?

Man findet in der Faszie alle möglichen Arten von Rezeptoren, z. B. Nozizeptoren, die potenzielle Schmerzreize weiterleiten, Ruffini-Körperchen, die über Lage, Belastung und Bewegung informieren, oder Interozeptoren, welche die Insula des Großhirns über physiologische Veränderungen im Gewebe informieren und so auch unser subjektives Körpergefühl und das Empfinden eines Selbst prägen. Faszien spielen also nicht nur eine Rolle bei der Entstehung von Schmerzen, sie sind zudem ein wichtiges Sinnesorgan für die Propriozeption. Die Art und Menge der Rezeptoren variiert je nach faszialem Gewebe.

Dieses Wissen kann man als Therapeut nutzen. Arbeitet man etwa an faszialen Strukturen, die viele Pacini-Rezeptoren aufweisen, z. B. an den spinalen Ligamenten oder an tieferen Schichten von Gelenkkapseln, sind vermutlich schnelle, chiropraktische oder vibratorische Techniken am günstigsten, weil Pacini-Rezeptoren verstärkt auf Vibration reagieren. Ruffini-Rezeptoren wiederum – besonders viele findet man etwa in den Retinaculi der Handgelenke – werden eher durch ruhige Griffe stimuliert, da sie sich verglichen mit den Pacini-Rezeptoren eher langsam adaptieren.

Abgesehen von der Art und Menge der Rezeptoren, worin unterscheiden sich verschiedene Arten faszialen Gewebes noch?

Das fasziale Gewebe differenziert sich in der Embryonalentwicklung relativ schnell, da es auf Zugspannung spezialisiert ist. An den Randbereichen der wachsenden Organe sowie des Körpers als Ganzes bilden sich dann besonders dichte Faszienhüllen. Je nachdem, ob eine Faszie oberflächlich liegt oder tief, ob sie ein Organ umhüllt oder knöcherne Strukturen miteinander verbindet und wie sie im täglichen Leben belastet wird – je nach Funktion also –, entsteht dann ein Scherengitter, ein parallelfaseriges Band oder ein multidirektionales Gewebe.

Und nicht jede Faszie haben wir von Geburt an. Nehmen Sie z. B. den Tractus iliotibialis auf der Außenseite vom Oberschenkel, der vom Beckenkamm bis unterhalb des Knies zieht und so die seitliche Biegespannung am Oberschenkelknochen reduziert. Diese einzigartige Struktur hat sonst kein anderes Lebewesen auf diesem Planeten. Sie formt sich erst, wenn wir anfangen zu stehen und zu gehen und uns länger als einige Minuten am Tag auf 2 Beinen bewegen. Bei Säuglingen findet man diese Struktur daher also noch nicht als Band, bei bettlägerigen Menschen oder Rollstuhlfahrern bildet es sich entsprechend wieder zurück.

Man hat auch herausgefunden, dass sich bei Menschen, die regelmäßig viele Stunden am Tag reiten, häufig ein ähnliches Band an der Innenseite des Beins entwickelt, wo es dann – bei besonders chronischer Belastung – sogar zur Ausbildung eines fersenspornähnlichen „Reiter-Knochens“ kommen kann.

Faszien sind also physiologisch veränderlich. Wie aber verändern sie sich pathologisch?

Beim straffen Bindegewebe spielt die Biomechanik eine große Rolle, die Biochemie nur eine untergeordnete. Bewegungsmangel ist ein Haupteinflussfaktor, aber auch Überlastung. Sowohl unterfordernde als auch überfordernde Belastungsstimulationen lassen das Bindegewebe nämlich verfilzen.

Ein geordnetes Bindegewebe hat z. B. eine parallelfaserige oder scherengitterartige Struktur, ähnlich wie textiles Elastangewebe oder eine Strumpfhose. Diese ist im Körper jeweils in einem ganz bestimmten Winkel angeordnet. Verfilzen würde bedeuten, dass das Gewebe nach und nach diese Ordnung verliert und anfängt, wucherartig an Dichte zuzunehmen. Das entspricht ungefähr der Architektur von textilem Filzgewebe. Wenn man z. B. ein Gelenk mit Gips ruhigstellt, fangen die Gelenkkapsel und das umgebende Gewebe an, zu verfilzen. Sie werden spröde, also weniger dehnbar. Dies wurde in Tierversuchen sehr deutlich dokumentiert.

Ein Überlastungsschaden wiederum entsteht üblicherweise erst ab ca. 20 000 Wiederholungen einer Bewegung pro Woche, z. B. wenn man auf einen Marathon trainiert oder als Büroangestellter tausende von Tastaturanschlägen pro Tag ausführt. Während die Verfilzung durch Bewegungsarmut

eher mit einer trockenen Versprödung des lokalen Fasergewebes einhergeht, führt Überlastung zu einer nassen Verfilzung mit Ödemen und Entzündungen.

Weitere Faktoren, die bei der pathologischen Veränderung der Faszien eine Rolle spielen, sind chronischer Stress, ein saurer pH-Wert sowie systemischen Entzündungsprozesse im Körper. Mit Entspannungsmethoden, einer anti-entzündlich wirkenden Ernährung und moderater Bewegung – Letzteres ist ein besonders wirksamer anti-inflammatorischer Reiz – kann man sicherlich viel für die Fasziengesundheit tun.

Sie haben zusammen mit internationalen Kollegen eine eigene Methode des Faszientrainings entwickelt. Was sind die Grundlagen dieser Methode?

Faszientrainings hat es immer schon gegeben. Forscher haben jedoch in den letzten Jahrzehnten entdeckt, dass bei schnellen, federnden Bewegungen eine wesentlich deutlichere Längenveränderung in den entsprechenden faszialen Elementen stattfindet als in den damit verbundenen Muskelfasern. Solche federnden Bewegungen sollten jedoch mit Körpergefühl ausgeführt werden und die entsprechenden faszialen Strukturen elastisch genug sein. Die Ausführung solcher Bewegungen mit dem notwendigen Körpergefühl, also diese wahrgenommene Mühelosigkeit und Geschmeidigkeit, ist heute biomechanisch messbar. Sie entsteht, wenn die Muskeln nur noch minimale Antriebsenergie erzeugen und die Faszien maximal beteiligt sind im Speichern und Zurückgeben von Bewegungsenergie.

Aus diesen Beobachtungen heraus haben wir in Zusammenarbeit mit internationalen Kollegen begonnen, herauszuarbeiten, welche Übungen sich in welcher Dosis eignen, um das Fasziennetz bestmöglich zu trainieren und die verschiedenen Faszienketten dabei zu integrieren.

Dr. Robert Schleip ist Direktor der Fascia Research Group, Division of Neurophysiology, Universität Ulm, sowie Forschungsdirektor der European Rolfing Association. Er ist Heilpraktiker seit 1980, Diplom-Psychologe und promovierter Humanbiologie (Dr. biol. hum, summa cum laude, Universität Ulm). Er ist zertifizierter Rolfing®-Lehrer (1992) und Feldenkrais®- Lehrer (1980). Seine Forschungsbefunde zur aktiven Faszien-Kontraktilität wurden 2006 mit dem Vladimir Janda Preis für Muskuloskelettale Medizin ausgezeichnet. Er war Co-Initiator des 1. Fascia Research Congress (Harvard Med. School, Boston 2007) sowie der Nachfolgekongresse und ist Autor und Herausgeber zahlreicher Fachpublikationen zum Bereich Faszien.

Internet: www.somatics.de, www.fasciaresearch.de

 

Manche behaupten, dass Faszien für den Energiefluss im Körper relevant sind. Was steckt dahinter?

Die Funktion der Faszien als Sinnesorgan könnte ein Grund dafür sein, weshalb es Wahrnehmungsphänomene gibt, in denen man Lebensenergie z. B. als Kribbeln oder Fließen spürt. Neue neuronale Weiterleitungs-Aktivierungen oder eine Mehrdurchblutung von stagniertem Gewebe sind weitere Erklärungsansätze. Es gibt sicherlich noch andere. Als jemand, der sich der akademischen Forschung verschrieben hat, bevorzuge ich jedoch im Zweifelsfall erstmal weniger mutige Erklärungen.

Die alten Chinesen scheinen den Zusammenhang von Energie und Bindegewebe schon erkannt zu haben. Viele Meridiane entsprechen ja den Verläufen von faszialen Strukturen. Über 80 %, nicht ganz 90 %, der TCM-Meridiane entsprechen bestimmten Faszienverläufen.

Studien haben nämlich gezeigt, dass die Mehrheit der Akupunkturpunkte nicht zufällig in der Faszienarchitektur verteilt ist, sondern dass sie mehrheitlich dort liegen, wo 2 Muskelhüllen gemeinsam ein Septum bilden. Aufgrund der höheren Kollagendichte ist der elektrische Widerstand dort ungefähr doppelt so hoch. Es könnte also durchaus sein, dass ein Osteopath oder Rolfer mit einer Faszienbehandlung dasselbe bewirkt wie jemand, der beispielsweise Akupressur anwendet.

Welche aktuellen Fragen stellen Sie sich als Faszienforscher?

Der Zusammenhang zwischen der Gesundheit von Faszien und dem Verlauf von Krebserkrankungen ist momentan das brennendste Thema in der Faszienforschung. Ob jemand an Krebs stirbt, hängt natürlich sehr davon ab, welche Art Krebs er hat. Aber für die Frage, inwiefern der Krebs vom Immunsystem lokal in Schach gehalten werden kann oder sich zunehmend ausbreitet, könnte ausschlaggebend sein, wie schnell und stark das fasziale Bindegewebe um den Tumor versteift oder durchlässig für das Immunsystem bleibt. Dazu wird momentan viel geforscht.

Die Pharmaindustrie hofft darauf, Medikamente zu entwickeln, die der Fibrotisierung von Faszien entgegenwirken, hatte bisher aber noch keinen wirklichen Durchbruch. Uns wiederum beschäftigt die Frage, ob langsame, gering dosierte Dehnungen nicht ein Weg sein könnten, die Bindegewebskapsel um einen Tumor durchlässig zu halten.

Eine andere Frage, die mir durch den Kopf geht, ist, ob federnde Belastungen gar nicht der effektivste Trainingsreiz für das Fasziensystem sind. Ich würde das zwar zunächst als persönlich enttäuschend erleben, aber es könnte durchaus sein, dass z. B. ein modifiziertes Krafttraining für das fasziale Bindegewebe einen besseren Wachstumsimpuls erzielt als die beseelten, hüpfenden und schmelzenden Bewegungen in unserem derzeitigen Faszientraining. Ich wünsche mir zwar sehr, dass das nicht der Fall ist. Aber die Natur richtet sich nicht nach den Wünschen der Therapeuten. Ich empfehle daher im weiteren Umgang mit den Faszien und mit dem extrem dynamischen Gebiet der aktuellen Faszienforschung immer für weitere Überraschungen offen zu bleiben.