PräventionÜberversorgt und trotzdem früher tot

Die Lebenserwartung in Deutschland fällt im internationalen Vergleich auffällig niedrig aus, obwohl sich Deutschland eines der teuersten Gesundheitssysteme der Welt leistet.

6 bunte Donuts auf weißem Hintergrund
K. Oborny/Thieme

Deutschland ist nicht nur führend bei den Gesundheitsausgaben, sondern auch beim Konsum von Zucker. Eine Zuckersteuer sei überfällig, mahnen Fachgesellschaften.

Bei den Ausgaben für das Gesundheitsystem belegt Deutschland einen der vorderen Plätze. Bei der Lebenserwartung gehört es zu den Schlusslichtern. 

Zu diesem Ergebnis kommt eine neue Studie des Max-Planck-Instituts für demografische Forschung in Rostock. Darin wurde die Lebenserwartung in Deutschland mit 6 Ländern (Schweiz, Frankreich, Japan, Spanien, Großbritannien, USA) mit hohem Einkommen verglichen. Es zeigten sich erhebliche Unterschiede:

  • In den bestplatzierten Ländern (Frauen: Spanien, Männer: Schweiz) werden die Menschen im Durchschnitt gleich mehrere Jahre älter als in Deutschland.
  • In Deutschland ist vor allem die erhöhte Anzahl von Todesfällen aufgrund kardiovaskulärer (Herz-Kreislauf-)Erkrankungen auffällig.

Gerade angesichts der immensen Ressourcen, die hierzulande für die Gesundheit ausgegeben werden, müssen diese Zahlen aufrütteln: In Deutschland arbeiten überdurchschnittlich viele Ärzt*innen, gleichzeitig gibt es mehr Krankenhaus- und Intensivbetten als in fast allen anderen verglichenen Ländern. Trotzdem sterben die Menschen in Deutschland früher.

Die Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM) kritisiert insbesondere, dass wichtige Hebel in der Prävention, insbesondere bei Herz-Kreislauf-Erkrankungen.

Zu wenig Gesprächszeit für Gesundheitsberatung

Prof. Martin Scheerer sagt: "Es wäre schon viel gewonnen, wenn die sprechende Medizin aufgewertet wird, so dass den hausärztlichen Kolleginnen und Kollegen endlich mehr Zeit für die Gesundheitsberatung zur Verfügung steht. Anders wird es nicht gelingen, gerade Risikogruppen zu erreichen. Das geht nur im Gespräch.“ So sei die Anzahl der Arztkontakte pro Person in Deutschland extrem hoch, die Zeit, die Ärzt*innen zur Besprechung von gesundheitsförderndem Verhalten zur Verfügung sthet jedich viel kürzer als in den verglichenen Ländern.

Hoher Zuckerkonsum und viele Raucher*innen

Echte Prävention ist zudem viel mehr als eine medizinische – sie ist eine gesellschaftspolitische Aufgabe: „Deutschland ist führend im Pro-Kopf-Verbrauch von Zucker, hat immer noch eine überdurchschnittliche Alkohol- und Raucherquote (und als eines von wenigen Ländern weiterhin kein Werbeverbot für Zigaretten) und einen viel zu hohen Anteil an übergewichtigen und adipösen Menschen. Bei der Ernährung fällt die hohe Rate an tierischen Produkten auf. Auch bei der Bewegung gibt es Defizite,“ ergänzt Dr. Thomas Maibaum von der DEGAM-Sektion Prävention.

Gleichzeitig warnt die Fachgesellschaft davor, die Verantwortung alleine bei den Betroffenen abzuladen. „Es ist seit Jahren bekannt, dass eine reine Verhaltensprävention in erster Linie die Menschen erreicht, die sowieso schon gesundheitsbewusst leben. Bei der Verhältnisprävention, über die seit Jahren diskutiert wird, kommt Deutschland weder bei der Forschung noch in der Praxis der öffentlichen Gesundheitsfürsorge (Public Health) wirklich voran."

"Erste und längst überfällige Schritte wären: Einführung Zuckersteuer, Werbeverbot für Tabakprodukte, Raucherentwöhnung als Kassenleistung, Subventionierung von gesunder Ernährung in Kindergarten und Schule und mehr Sportangebote für jede Altersstufe“, fordert Dr. Martin Scherer

Hinsichtlich der Konsequenzen der Studie sieht die Autorengruppe insbesondere Defizite in der Prävention von Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Die DEGAM geht davon aus, dass die kardiovaskuläre Krankheitslast auch medikamentös effektiver reduziert werden kann: „Bei Menschen mit hohem absoluten und relativen Herzinfarkt-Risiko sollten verstärkt Statine verschrieben werden“, fasst Dr. Uwe Popert den Wissensstand zusammen.

„In Deutschland liegt die Indikationsgrenze derzeit bei einem 20-prozentigen Risiko, dass innerhalb von 10 Jahren ein kardiovaskuläres Ereignis (zum Beispiel Herzinfarkt) auftritt. Im europäischen Ausland liegt die Indikationsschwelle meist bei 10 Prozent. Auch Deutschland sollte diesen Wert insbesondere für Jüngere bei 10 Prozent ansetzen, um eine problematische Verzögerung der Behandlung zu vermeiden.“

Quelle: Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin

Literatur

Jasilionis D, van Raalte AA, Klüsener S et al. The underwhelming German life expectancy. Eur J Epidemiol 2023; https://doi.org/10.1007/s10654-023-00995-5

DEGAM-Leitlinie zur Kardiovaskulären Prävention: https://tinyurl.com/y5sn6jp9