Myalgische EnzephalomyelitisME/CFS: Evidenz und aktueller Kenntnisstand

Was ist zu ME/CFS bekannt? Wie ist die Studienlage? Welchen Nutzen haben Verhaltens- und Aktivierungstherapie? Diese Fragen beantwortet das IQWiG in einer neuen Gesundheitsinformation.

Strichzeichnung einer Frau mit gesenktem Kopf, das Gesicht in den Händen
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ME/CFS ist eine schwere körperliche Erkrankung mit dem Kernsymptom der Post-exertional Malaise.

Im Auftrag des Bundesministeriums für Gesundheit hat das IQWiG die Evidenz zur ME/CFS (Mylgische Enzephalomyelitis/Chronisches Fatigue-Syndrom) gesichtet, die Vor- und Nachteile zweier Therapien bewertet, Gesundheitsinformationen entwickelt und Handlungsempfehlungen vorgelegt.

Die Hinweise aus den Stellungnahmen und ein Update der Literaturrecherche haben vor allem an zwei Stellen zu Veränderungen geführt:

  • Die Schätzung der Zahl der Patient*innen in Deutschland ist nun höher als im Vorbericht.
  • Für die Aktivierungstherapie werden keine Anhaltspunkte für einen Nutzen mehr abgeleitet, da schwere Nebenwirkungen der Therapie auf Basis der Studiendaten nicht ausgeschlossen werden können.

ME/CFS: Hauptsymptome

Myalgische Enzephalomyelitis / Chronisches Fatigue-Syndrom (ME/CFS) ist eine chronische Erkrankung, die die Lebensqualität vieler Betroffener stark einschränkt. Zu den Beschwerden zählen u.a.

  • Fatigue, eine starke Erschöpfung, die sich durch Ruhe und Erholung kaum bessert,
  • Schmerzen,
  • Schlafstörungen,
  • Konzentrationsstörungen.

Leitsymptom: Post-exertional Malaise

Die Post-exertional Malaise gilt als Leitsymptom der ME/CFS. Bereits nach geringfügigen körperlichen oder geistigen Aktivitäten trit eine Verschlechterung der Symptome ein. Diese kann sofort oder mit einer Latenz von 1-2 Tage danach auftreten und für Tage oder Wochen andauern.

Ursachen

ME/CFS wurde bereits 1969 von der WHO als neurologische Krankheit klassifiziert. Die Ursachen sind jedoch nach wie vor nicht geklärt.

Diagnose

Erste ME/CFS-Symptome setzen oft nach einer Infektion oder einem Trauma (etwa an der Halswirbelsäule) ein. Eindeutige Biomarker für ME/CFS wie Labortests oder Bildgebungsbefunde existieren derzeit nicht. Die Diagnose orientiert sich an den Symptomen, die aber sehr unterschiedlich ausfallen können.

Die Kriterien zur Diagnose der ME/CFS haben sich in den letzten Jahrzehnten verändert: In vielen älteren Publikationen wurde die Post-exertional Malaise nicht als Leitsymptom angesehen. Heute ist diese das charakteristische Leitsymptom, um eine ME/CFS zu diagnostizieren.

Prävalenz

Solche Ungewissheiten wirken sich auf die Schätzung der Zahl der Betroffenen (Prävalenz) aus. Zudem wurde im Abschlussbericht im Gegensatz zum Vorbericht auch die Prävalenz bei Kindern und Jugendlichen betrachtet.

Insgesamt schätzt das IQWiG die Anzahl von Patient*innen mit ME/CFS in Deutschland in der Zeit vor der SARS-CoV-2-Pandemie auf ungefähr 140.000 bis 310.000.
Da ein Teil der Post-COVID-Patient*innen die ME/CFS-Diagnosekriterien erfüllt, dürfte die Zahl seither gestiegen sein. Eine verlässliche Schätzung ist aber aufgrund fehlender Daten noch nicht möglich.

Vor- und Nachteile von Behandlungen

Zur Übersicht über die Therapieoptionen (Evidenzkartierung) gab es in der Anhörung zum Vorbericht und der Aktualisierung der Recherche keine neuen Hinweise. In je zwei Studien zeigten sich statistisch signifikante positive Effekte im Vergleich zur ärztlichen Standardversorgung zur:

  • kognitiven Verhaltenstherapie (Cognitive Behavioural Therapy, kurz CBT) und
  • Aktivierungstherapie (Graded Exercise Therapy, kurz GET).

In der Nutzenbewertung für diese beiden Interventionen wurde aufgrund der Hinweise im Stellungnahmeverfahren besonderes Augenmerk auf Indizien für ein Schadenspotenzial gerichtet.

Kognitive Verhaltenstherapie (CBT)

Das IQWiG leitet für die kognitive Verhaltenstherapie weiterhin einen Anhaltspunkt für einen kurz- und mittelfristigen Nutzen ab: Dieser betrifft die Fatigue, soziale Teilhabe oder Krankheitsgefühl nach Anstrengung. Für einen längeren Zeitraum liegen keine Daten vor.

Zur Bewertung der Vor- oder Nachteile einer kognitiven Verhaltenstherapie bei Patient*innen mit höherem ME/CFS-Schweregrad gibt es keine geeigneten Studien.

„Unsere Ergebnisse machen klar, dass eine kognitive Verhaltenstherapie die Erkrankung nicht heilen kann“, sagt Daniel Fleer vom IQWiG-Ressort Nichtmedikamentöse Verfahren. „Sie ist aber ein Angebot vor allem an leichter erkrankte Patient*innen, etwas besser mit ihrer Situation zurechtzukommen.“

Aktivierungstherapie (GET)

Bei der Aktivierungstherapie erfolgt eine schrittweise Erhöhung der körperlichen Aktivität ausgehend von einem individuellen Ausgangswert. 

Zwei Studien zeigen für Betroffene mit leichter bis moderater ME/CFS in mehreren patientenrelevanten Endpunkten zwar statistisch signifikante, aber im Mittel nur kleine Vorteile gegenüber der Standardtherapie.

Die klinische Relevanz der meisten Aktivierungseffekte bleibt fraglich. Beispielsweise konnten viele Patient*innen nach einer Aktivierungstherapie innerhalb von sechs Minuten einige Meter weiter gehen. Gegenüber Gesunden war die Gehstrecke aber immer noch stark verkürzt.

In der Anhörung zum Vorbericht haben mehrere Stellungnehmende darauf hingewiesen, dass Patient*innen mit ME/CFS nach Therapien, die eine Steigerung der körperlichen Aktivität beinhalteten, über Zustandsverschlechterungen berichten. Es ist unklar, inwieweit diese Verschlechterungen nach sachgemäßen Anwendungen einer Aktivierungstherapie aufgetreten sind, wie sie in den Studien-Handbüchern beschriebenen ist, oder nach anderen Behandlungen zur Steigerung der körperlichen Aktivität. Die in den Studien erhobenen Daten sind jedenfalls nicht aussagekräftig genug, um einen Nachteil durch schwerwiegende Nebenwirkungen der Aktivierungstherapie auszuschließen. Daher ist eine verlässliche Abwägung von Nutzen und Schaden der GET für leicht bis moderat Erkrankte derzeit nicht möglich.

Für Patient*innen mit höherem ME/CFS-Schweregrad gibt es auch hier keine geeigneten Studiendaten.

Informationen zu ME/CFS im Internet

Aus den in der Fachliteratur dokumentierten Erfahrungen von Patient*innen mit ME/CFS hat das IQWiG die wichtigsten Informationsbedürfnisse abgleitet. Daraus und aus den Ergebnissen der anderen Teile des IQWiG-Berichts wurde eine vierteilige Gesundheitsinformation entworfen, die einen Überblick über die Erkrankung gibt und für Betroffene und Angehörige insbesondere die Themen Diagnose, Behandlung und Unterstützung im Alltag vertieft. Sie werden regelmäßig aktualisiert und sind abrufbar unter:

gesundheitsinformation.de

Handlungsempfehlungen für Gesundheitspolitik, Ärzteschaft und Wissenschaft

Der Bericht des IQWiG an das BMG hat Wissenslücken und Defizite in der Versorgung aufgezeigt:

  • Leicht auffindbare, sachliche und verständliche Aufklärung für Erkrankte und die Öffentlichkeit.
  • Entsprechende Lehrinhalte sollten in die Aus- und Weiterbildung von Gesundheitsberufen integriert werden.
  • Ein internationaler Konsens über die Diagnosekriterien ist dringend erforderlich, auf deren Basis die Forschung verstärkt werden muss.
  • Dem potenziellen Nutzen und dem Schadenspotenzial aktivierender Therapien sollte in Studien weiter nachgegangen werden.
  • Die Evidenzlücke zu Vor- und Nachteilen des Pacings sollte zügig geschlossen werden.

Hintergrund

Im Frühjahr 2021 hat das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) beauftragt, den aktuellen wissenschaftlichen Kenntnisstand zum Thema ME/CFS fachlich und allgemein verständlich aufzuarbeiten und die Ergebnisse zu veröffentlichen. Nach einem Vorbericht im Herbst 2022 und einem Stellungnahmeverfahren unter reger Beteiligung von Fachgesellschaften, Forschenden, Betroffenen und Betroffenen-Organisationen liegt nun der finale Bericht vor.

Der Bericht hat vier Teile:

  1. Der aktuelle Wissensstand zum Krankheitsbild ME/CFS wurde systematisch aufgearbeitet: Dargestellt werden die Beschwerden oder Symptome, mutmaßliche Ursachen, epidemiologische und versorgungsrelevante Aspekte und aktuelle Diagnosekriterien.
  2. Das Institut hat eine sogenannte Evidenzkartierung vorgenommen: Zu ausgewählten Therapieziele wird eine Übersicht über die Studienlage zu versorgungsrelevanten Therapieoptionen gegeben.
  3. Zu zwei Therapieverfahren, die in der Evidenzkartierung identifiziert wurden, wurden die Vor- und Nachteile für Patient*innen mitt ME/CFS so weit wie möglich ermittelt und gegeneinander abgewogen.
  4. Gesundheitsinformation, die das relevante Wissen in verständlicher Weise vermitteln, wurden in Nutzertests geprüft und nun auf gesundheitsinformation.de veröffentlicht.

Quelle: Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen