Welt-MS-TagNeue Therapieansätze für Multiple Sklerose

Dank intensiver Forschung werden die Pathomechanismen der MS immer besser verstanden. Zwei neue Studien identifizierten weitere Therapietargets.

Tastatur auf der ein Zettel mit der Aufschrift Multiple Sklerose und ein Stethoskop liegen.
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Die neuen Therapiemöglichkeiten setzen bei den axonalen Kaliumkanälen und der Lungen-Hirn-Achse an.

In Deutschland erkranken jährlich über 10.000 Menschen an Multipler Sklerose (MS); es sind insgesamt weit über 250.000 Betroffene. MS ist eine meist schubförmig verlaufende chronisch-entzündliche Autoimmunerkrankung des zentralen Nervensystems. Die Symptomatik entsteht durch eine Störung der elektrischen Signalweiterleitung der Nervenfasern (= Neurone) aufgrund eines fortschreitenden Untergangs der von Oligodendrozyten gebildeten neuronalen Isolierschicht (= Myelinscheiden).

Studien geben Impulse für neue Therapieansätze 

Neue Erkenntnis über pathophysiologische Abläufe [1]

Ein Forschungsteam konnte zeigen, dass bestimmte Kaliumkanäle der Nervenbahnen offensichtlich eine bedeutsame Funktionsstörung aufweisen. Sie gingen der experimentell generierten Hypothese nach, dass eine chronische neuronale Übererregbarkeit eine grundlegende Rolle bei der MS-Pathogenese spielt.

Diese chronische Übererregbarkeit führt im Verlauf zu einer metabolischen Erschöpfung der betroffenen Neuronen, so dass sie zugrunde gehen.

Die erhöhte Erregbarkeit ist wahrscheinlich Folge verschiedener Faktoren, die die Schwelle für die Erzeugung von Aktionspotenzialen im Zusammenhang mit der chronisch-entzündlichen Demyelinisierung senken. Die Erregbarkeit der Neuronen an und um die Ranvier’schen Schnürringe wird durch Kaliumkanäle reguliert.

Detaillierte Untersuchungen zeigten, dass axonale Kaliumkanäle Kaliumionen überwiegend von innen nach außen durch die Zellmembran leiten (auswärts-gleichrichtende Kv7-Kanäle) und oligodendrogliale Kaliumkanäle überwiegend von extra- nach intrazellulär (einwärts-gleichrichtende Kir4.1-Kanäle).

Die Analyse der räumlichen und funktionellen Beziehung zwischen Kv7- und Kir4.1-Kanälen sowie der funktionellen und transkriptionellen Signaturen von kortikalen und retinalen Projektionsneuronen im gesunden Zustand sowie unter entzündlich-demyelinisierenden Bedingungen zeigte, dass die Regulation beider Kanäle bei MS und bei der experimentellen autoimmunen Enzephalomyelitis gestört ist.

Lungen-Hirn-Achse als Therapietarget identifiziert [2]

Über die Bedeutung des Darmmikrobioms (bzw. der sog. Darm-Hirn-Achse) wurde bereits viel berichtet – ganz neu sind nun die Erkenntnisse eines deutschen Forschungsteams aus Göttingen zu dem Zusammenhang von Lungenmikrobiom und MS.

Sie konnte im MS-Tiermodell zeigen, dass das pulmonale Mikrobiom die Fähigkeit zerebraler Mikroglia-Zellen zur Auslösung einer Autoimmunreaktion maßgeblich beeinflusst. Durch die direkt intratracheale Gabe des Antibiotikums Neomycin verschob sich die pulmonale Bakterienflora – es kam zu einer verstärkten Besiedelung mit Lipopolysaccharid (LPS)-produzierenden Bakterien.

Mikroskopisch zeigte die Mikroglia daraufhin nicht nur sichtbare Veränderungen mit verminderter Zahl und Länge ihrer Zellfortsätze, sondern sie verlor auch ihre Reaktionsfähigkeit auf experimentelle Stimuli, mit denen bei unbehandelten Tieren sonst eine MS ausgelöst werden kann. Die Beseitigung LPS-produzierender Bakterien in der Lunge mit einem anderen Antibiotikum hingegen verschlimmerte die zerebrale Autoimmunreaktion und die Symptome der Tiere; die erneute Zugabe von LPS kehrte den Effekt wieder um.

Die Forscher*innen schlussfolgern, dass die Ergebnisse wegweisende klinische Bedeutung haben, denn die pharmakologische Beeinflussung der Lungen-Hirn-Achse (d.h. der Signale des Lungenmikrobioms an die Mikroglia) könnten ein innovatives Therapietarget darstellen.

Quelle: Deutsche Gesellschaft für Neurologie e.V.

Literatur 

[1] Kapell H, Fazio L, Dyckow J et al. Neuron-oligodendrocyte potassium shuttling at nodes of Ranvier protects against inflammatory demyelination. J Clin Invest 2023; 133 (7). doi: 10.1172/JCI164223

[2] Hosang L, Canals RC, van der Flier FJ et al. The lung microbiome regulates brain autoimmunity. Nature 2022; 603 (7899): 138-144. doi: 10.1038/s41586-022-04427-4