MikrobiomLungen-Mikrobiom steuert Immunbereitschaft des Gehirns

Das Mikrobiom der Lunge steuert die Anfälligkeit des Gehirns, eine zerstörerische Autoimmunentzündung zu entwickeln. Das konnten Wissenschaftler*innen des Instituts für Neuroimmunologie und Multiple-Sklerose-Forschung an Modellen für Multiple Sklerose zeigen.

Lunge, medizinische Illustration
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Das Mikrobiom der Lunge steuert die Anfälligkeit des Gehirns, eine zerstörerische Autoimmunentzündung zu entwickeln.

Die Lunge ist über eine große Austauschfläche mit der Umwelt verbunden, um den Organismus mit Sauerstoff zu versorgen. An dieser Grenze zwischen Lungengewebe und Außenluft ist das Lungenmikrobiom angesiedelt - eine spezielle mikrobielle Flora. Welche Funktion dieses Mikrobiom ausübt, ist bislang wenig erforscht. Ein Wissenschaftler*innenteam des Instituts für Neuroimmunologie und Multiple-Sklerose-Forschung der Universitätsmedizin Göttingen konnte (UMG) jetzt eine enge Beziehung zwischen dem Lungenmikrobiom und dem Gehirn aufzeigen: Die Forscher*innen fanden heraus, dass das Lungenmikrobiom die Aktivität der Mikroglia, der „Immunzellen des Gehirns“, reguliert. Diese neu entdeckte Lunge-Hirn-Achse ist für die Entwicklung von Krankheitsprozessen von Bedeutung: So bestimmte die Zusammensetzung des Lungenmikrobioms die Anfälligkeit, eine Autoimmunentzündung des Gehirns zu entwickeln, wie sie bei der Multiple-Sklerose auftritt.

Die Arbeit der Göttinger Forscher*innen weist auf eine neue und unerwartete funktionelle Verbindung zwischen Lunge und Gehirn hin. Diese Verbindung wird vom lokalen Mikrobiom gesteuert, das offenbar ständig Signale an die Mikroglia sendet. „Die Mikroglia passt ihre immunologische Reaktionsfähigkeit entsprechend diesen mikrobiellen Signalen an und kann daher rechtzeitig auf drohende Gefahren reagieren“, sagt Dr. Leon Hosang, Erstautor der Studie. „Das Lungenmikrobiom wirkt daher als eine Art Frühwarnsystem für das empfindliche Gehirngewebe“, so Francesca Odoardi, Ko-Senior-Autorin der Publikation. Das kann auch Folgen für die Gesundheit haben: Infektionen der Lunge, therapeutische Manipulationen (Antibiotikabehandlungen), Umweltverschmutzung und Klimaveränderungen können auf das Lungenmikrobiom einwirken und somit die Immunreaktionen innerhalb des Gehirns beeinflussen.

„Möglicherweise lässt sich diese neue Lunge-Hirn-Achse sogar therapeutisch einsetzen“, sagt Prof. Dr. Alexander Flügel, Ko-Senior-Autor der Publikation. „So könnte eine gezielte Gabe von Probiotika oder bestimmten Antibiotika dazu genutzt werden die Immunreaktionen des Gehirns gezielt zu beeinflussen und damit nicht nur Multiple Sklerose, sondern generell Erkrankungen unseres Zentralnervensystems, bei denen die Immunaktivität der Mikroglia eine Rolle spielt, zu behandeln“, so Flügel.

Lunge und Gehirn

Die Lunge kann bei der Entwicklung von Krankheitsprozessen im Gehirn eine wichtige Rolle spielen. So steigern Infektionen der Lunge und Rauchen das Risiko, an Multipler Sklerose (MS) zu erkranken. Die MS ist eine Autoimmunerkrankung, bei der die T-Zellen des Immunsystems das eigene Hirngewebe angreifen und dort bleibende Schäden mit zum Teil gravierenden neurologischen Ausfällen verursachen. Warum und wie die Lunge bei der Steuerung von Autoimmunprozessen des Gehirns beteiligt ist, ist bislang unklar.

Das Lungengewebe bildet eine ausgedehnte Austauschfläche mit einer Größe von über 100 m2 mit der eingeatmeten Umgebungsluft. Diese Kontaktfläche erfordert einen Immunschutz gegen potenziell gefährliche Eindringlinge, z.B. Viren oder Bakterien. Organübergreifende Immunreaktionen finden aber nach gängiger Auffassung vor allem in spezialisierten Immunorganen, wie den Lymphknoten oder der Milz, statt. Hier sind alle Zellen und löslichen Immunfaktoren vorhanden, um Immunantworten gegen Eindringlinge, aber auch gegen Eigengewebe zu starten und zu steuern.

Veränderungen des Lungenmikrobioms beeinflussen Anfälligkeit für Autoimmunentzündung des Gehirns

Wie nimmt die Lunge Einfluss auf eine Autoimmunreaktion des Gehirns?

Die Göttinger Wissenschaftler*innen konnten feststellen, dass das Lungenmikrobiom hier eine besondere Rolle spielt, auch wenn die bakterielle Besiedlung der Lunge im Vergleich zum Darm oder der Haut verschwindend gering ist.

Bereits eine leichte Manipulation der mikrobiellen Flora durch eine lokale Gabe eines niedrig dosierten Antibiotikums reichte aus, um die Anfälligkeit des Gehirns für die Entwicklung einer Autoimmunerkrankung stark zu verändern.

Zellwandbestandteile von Lungenbakterien regulieren die Immunüberwachung des Gehirns

Wie beeinflusst das Lungenmikrobiom die Steuerung einer Autoimmunerkrankung im Gehirn?

Die Wissenschaftler*innen untersuchten schrittweise, an welchem Ort dieser Einfluss wirksam ist, welche Zellen dort betroffen sind und welche bakteriellen Signale bei der Regulation der Zellen beteiligt sind. Sie fanden heraus, dass sich der Angriffspunkt nicht in der Lunge oder in den Immunorganen des Körpers befindet, sondern direkt im Gehirngewebe. Dort stießen sie bei Antibiotika-vermittelter Manipulation des Lungenmikrobioms auf deutlich messbare und sogar auch auf mikroskopisch sichtbare Veränderungen der Immunzellen des Gehirns - der Mikroglia.

Mikroglia sind kleine feinverästelte Zellen, die mit ihren zarten Zellfortsätzen fortwährend ihre Umgebung abtasten, um Schädigungen oder Gefährdungen durch Infektionserreger wahrzunehmen. Ist dies der Fall, wird das Immunsystem aktiviert. Nach der Antibiotikagabe in die Lunge waren die Verästelungen der Mikroglia verkürzt und verdickt. Zudem reagierte die Mikroglia auch weniger stark auf entzündliche Signale, was eine verminderte Rekrutierung von Immunzellen in das entzündete Gehirngewebe zur Folge hatte. Dadurch ließ sich die verminderte Anfälligkeit gegenüber einer Autoimmunentzündung sehr schlüssig erklären.

Schließlich versuchten die Wissenschaftler*innen herauszufinden, welche bakteriellen Signale diese „Mikroglialähmung“ auslösen konnten. Hinweise lieferten Analysen der Lungenbakterien, die mit Hilfe von Mitarbeiter*innen des Instituts für Mikrobiologie der biologischen Fakultät der Universität Göttingen durchgeführt wurden. Die Analysen ergaben, dass sich bestimmte Bakterien, die einen besonderen Zellwandbestandteil, nämlich Lipopolysaccharid, produzieren, durch die Antibiotikagabe verstärkt im Lungengewebe ansammeln. Die erhöhte Menge von Lipopolysaccharid löste die beobachtete Mikroglialähmung und Autoimmunresistenz aus. Eine Senkung des Lipopolysaccharids in der Lunge bewirkte dagegen genau das Gegenteil: Die Autoimmunerkrankung verstärkte sich.

Quelle: Pressemitteilung/Universitätsmedizin Göttingen

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